Riesenmaschine

14.05.2007 | 20:51 | Anderswo | Was fehlt | Essen und Essenzielles

Es gibt Reis!

"Du warst das erste Mal bei mir, ich hatte immer noch keine Sitzgelegenheit" singen Tocotronic auf einer ihrer zumindest bis zur Jahrtausendwende doch sehr guten Veröffentlichungen in dem Lied "Vier Geschichten von Dir".


Mohn in Potenz (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Ähnliches könnte das sich derzeit wieder einmal die Lenden gürtende und zur Welthauptstadt der zeitgenössischen Kunst rüstende Kassel singen, wenn es denn eine Musikgruppe wäre. Nachdem nämlich auf der Wiese vor der Orangerie in den Karlsauen, auf der bei vergangenen Ausstellungen die Besucherinnen und Besucher Erholung suchten, zwischenzeitlich die Bürgelschen Gewächshäuser erfolgreich errichtet wurden, fallen nach und nach die paar weiteren Rasenplätze weg, auf denen man sich bei früheren documenten kostenlos niedersinken lassen konnte: Vor ein paar Tagen wurde berichtet, dass die grosse Wiese vor dem Fridericianum von der kroatischen Künstlerin Sanja Ivekovic komplett mit rotem Klatschmohn eingesät wurde, und jetzt kam raus, dass Sakarin Krue-On aus Thailand vor Schloss Wilhelmshöhe Reisterrassen anlegen wird.

Irgendwas müssen Ai Weiweis 1000 Chinesen ja auch essen, über die der Künstler bislang lediglich verlauten liess, dass es keine Nackten zu sehen geben wird, womit sich ein zweifelhafter Bogen vom Eingangssatz dieses Beitrags schlagen liesse zu den Tocotronic-Vorgängern S.Y.P.H., die bereits 1985 "Tausend nackte Neger" am Strassenrand nicht erkannten.


Kommentar #1 von irgendwem:

Warum auch immer die alten pubertär-dagegen-seienden Ergüsse von Tocotronic so viel besser sein sollen als die neuen nicht-mehr-dazugehörenden.
Im Übrigen gibt es Neues, man höre selbst auf deren Homepage oder der persönlichen Lieblings-Web-2.0-Website.

14.05.2007 | 23:04

Kommentar #2 von Rudi K. Sander; www.textsteller.de:

Liebe Riesenmaschinisten,
über dieses temporäre Trägheitsmoment Ihrer Klientel bin ich doch ein wenig überrascht: Noch kein Kommentar zu so viel Information, die sich doch vor allem an Künstler und Kunstbeflissene richtet, und die Riesenmaschine, so schien es mir bislang, ist doch ein geliebtes und akzeptiertes Spielzeug aller gerade auch an Kunst Interessierten oder gar mit der Herstellung und Rezeption von künstlerischer Betätigung der verschiedensten Art Befassten.
Nun gut, um nicht im Negativen zu verharren, sage ich mal – ganz kurz – was ich empfinde, wenn ich an Kassel denke:
1) Eine Stadt, die im Bombenkrieg viel gelitten hat. Dass die Menschen dort so lebensfroh mit Kunst umzugehen wissen, bleibt – nach so viel Leid – ein Wunder.
2) In Kassel hatte ich meinen ersten Alleinauftritt als Güteprüfer, also als Abnahmebeamter des in Koblenz angesiedelten Bundesamtes für Wehrtechnik und Beschaffung. Es war dieselbe Behörde, die mich zwei Jahre Lang vertrauensvoll zu entsprechenden Firmen nach England schickte. In Kassel – so viel darf hier gesagt werden – ging es um harmlose Dinge: Um die Funktionsfähigkeit von Marschkompassen. Auch dies waren die reinsten feinmachanischen Kunstwerke.
3) Einmal war ich sogar in Kassel, als die DOKUMENTA gerade vorüber war. Alles war schon wieder geschlossen, alle gezeigte Kunst war weggeräumt, aber der Katatlog war noch gegen einen vergleichsweise geringen Obolus zu erwerben. Hieraus habe ich mich dann informiert und bin schnurstracks auf diesem Platz gelandet, wo man eine kleine Kupferfläche haptisch kontaktieren konnte in der Gewissheit, es handele sich nicht nur um ein kleines Stückchen Kupfer dort im gepflasterten Boden, nein, der Katalog versicherte, es sei die sichtbare Schnittfläche einer in den Boden versenkten Kupferstange, die sage und schreibe 3000 Meter lang sein soll. Eigentlich unvorstellbar, dachte, welch perverse Phantasie, mit einem so langen Kupferpenis die gute Mutter Erde zu penetrieren. Auf solch Idee, sagte meine Frau (die damals noch gewisse Gemeinsamkeiten mit mir pflegte) könne doch wohl nur ein Mann kommen. Sie hatte Recht, es war – wenn ich nicht irre – ein Amerikaner.
Falls nicht, Ihr werdet dies gewiss richtig herausbringen (und antiamerikanisch hat meine Frau, eine in der Wolle eingefärbte Kennedyverehrerin, dies gewiss nicht gemeint).
Die Kunst soll leben, meint: Rudi Sander

15.05.2007 | 03:49

Kommentar #3 von beaver:

"Eine Stadt, die im Bombenkrieg viel gelitten hat. Dass die Menschen dort so lebensfroh mit Kunst umzugehen wissen, bleibt – nach so viel Leid – ein Wunder."
Jaja, die arme bombardierte Zivilbevölkerung, die natürlich nix mit dem Treiben des kleinen Österreichers mit dem komischen Bart zu schaffen hatte. Aprops Kunst: wie ging noch der Spruch über die Gedichte nach Auschwitz?

15.05.2007 | 06:22

Kommentar #4 von Rudi K. Sander; www.textsteller.de:

Lieber "beaver" (ein richtiger Name wäre mir lieber, als einen Atavar anreden zu müssen),
man kann, besonders unter Verwendung von Anführungszeichen" jeden aus dem Kontext gerissenen Satz mit einiger argumentativer Faulheit (wenig schreiben, den Rest dem Leser überlassen) und mit der üblicherweise dazugefügten rhetorischen Schlitzohrigkeit zu einem Knüppel machen, der sich dann mühelos dem Diskurspartner auf den Gedankenkopf schlagen lässt. Josef Goebbels war ein Meister in diesem menschenverachtenden Metier. Soviel zum Ersten.
Und was die einseitige, also bornierte Dummheit des ansonsten so klugen Meister Adorno anbelangt mit seinem ex cathedra verkündeten Diktum, nach Auschwitz Gesichte zu schreiben, sei selber schon wieder ein Verbrechen, so wird diese selbstgewählte Beschränktheit bei der Beschreibung der Welt durch eine nachäffende Wiederholung in ihrem Wahrheitsgehalt nicht wahrhaftiger.
Mit Ihrer Antwort (die mich treffen sollte, an mir aber wie Wasser an einer Regenhaut abläuft), haben Sie weder den Kasselenern noch dem toten Adorno (weil der sich nicht mehr wehren kann) einen Gefallen getan.
Ein Biber, ein konstruktives Tier also, das sind Sie gerade nicht, meint: Rudi Sander

15.05.2007 | 07:29

Kommentar #5 von irgendwem:

Es bleibt Herr Sanders grosser Verdienst, dass die Riesenmaschine nun ein echtes Blog ist.

15.05.2007 | 10:43

Kommentar #6 von M:

Herr Sander ist in meinem Ansehen grade um einige Stufen gestiegen, als ich erfahren habe, dass er für Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung tätig ist oder war. Auch wenn ich vorher dachte, dass die Lebensgeschichte von Herrn Sander eigentlich Keinen interessiert.

15.05.2007 | 13:06

Kommentar #7 von beaver:

Lieber Herr Sander,
richtige Namen sind natürlich etwas durchaus Exquisites, in Kommentarspaltendebatten bevorzuge ich aber den Biber. Jenes Tier ist, wie Sie durchaus richtig erwähnten, konstruktiv veranlagt, in gleichem Masse aber auch destruktiv. Bäume vs. Dämme, um es knapp zu formulieren.
Meine Anführungszeichen kennzeichneten ein Zitat. Ein durchaus übliches Mittel, um fremde von eigenen Aussagen unterscheidbar zu machen.
Aus dem Kontext gerissen war der zitierte Satz auch mitnichten, sondern entsprach exakt einem Ihrer Gedanken, die Ihnen so zu Kassel einfielen. Weder davor, noch dahinter findet sich etwas, das diesem Gedanken etwas hinzufügt oder ihn relativiert.
Der Verweis auf den ollen Wiesengrund war, da gebe ich Ihnen absolut Recht, blöd. Vielleicht formulierte TWA dies Diktum im Affekt, als er sah, wie schnell die Deutschen nach der Barberei zur Normalität zurück fanden. Vielleicht aber stand er tatsächlich felsenfest hinter dem Gesagten. Ich weiss es nicht und ich bin auch sonst nicht grade ein Freund der kritischen Theoretiker. Zumindest für mich kann ich behaupten, mich im Affekt auf Adorno bezogen zu haben. Ich hoffe für den Einsatz der Nazivergleichskeule ihrerseits gilt das ebenso. Denn schlitzohrig war an meiner Hinzufügung nun wirklich nichts. Die Aussage, dass der Nationalsozialismus keine Veranstaltung von ein paar Verrückten war, sondern sich der massenhaften Zustimmung (und Mittmachens) der Bevölkerung erfreute, würden Sie doch nicht ernsthaft bestreiten wollen.
Ich wiederum würde es nicht wagen, zu bestreiten, dass die Luftangriffe Leid unter den Menschen in Kassel angerichtet haben. Was den Zusammenhang zwischen Not, Angst und Tod auf der einen und Kunstbetrieb (der aufgenommen wird, wenn wieder "Normalität" eingekehrt ist) auf der anderen Seite angeht, stehe ich allerdings auf dem Schlauch.
Sollten Sie vorhaben, diese Diskussion weiterzuführen und der Ansicht sein, dass da in wesentlichen Fragen Klärungsbedarf besteht, schlage ich vor, dies per mail geschehen zu lassen. Ihre Adresse finde ich ja auf Ihrer website.
Grüsse, beaver

16.05.2007 | 05:50

Kommentar #8 von Rudi K. Sander; www.textsteller.de:

Lieber Biber (bleiben wir dabei),
wir sollten nicht streiten. Dass man – ungewollt – mit einer Formulierung aneckt, merkt man ja leider erst hinterher. Das hängt eben damit zusammen, dass über den Sinn eines Satzes der Hörer/Leser entscheidet (Heinz von Foerster). An diesem Vollendungselement der Kommunikationstheorie ist nun mal nicht zu rütteln. Zwar operieren in einem Diskurs Alter wie Ego komplementär auf einer unterstellten und durchaus wohlwollend vermuteten gemeinsamen Sinnebene, aber "Verstehen" ist dennoch eine komplexe Produktion, die eben nicht immer gelingt; aber man kann ja zurückfragen.
Ich versuche ein Resummée:
1) Bombenopfer leiden: Konsens.
2) Zwischen dem ehemals zerbombten Kassel und seiner jetzigen Rolle als Dokumenta-Ort besteht kein Kausalzusammenhang: Konsens.
3) Keiner kann wissen, was sich Adorno bei seinem Quasi-Poesieverbot nach Auschwitz gedacht haben mag. Dass ein Opfer so reagiert, kann man ihm ja zubilligen. Mich aber hat sein Satz immer geärgert: Hier sehe ich auch Konsens.
4) Die Nazizeit war keine Veranstaltung weniger Verrückter (Konsens), sie war ohne die positive Resonanz vieler nicht möglich (Konsens). Wer sie nicht erlebt hat, wird unvermeidlich Fehlurteile produzieren. Als alles vorbei war, war ich 16 1/2 Jahre alt. Heute, wo ich 78 bin, wage ich nicht mehr (von den eindeutigen Verbrechern abgesehen) irgendeinen der damals lebenden Menschen zu verurteilen. Dazu habe ich inzwischen zuviel gelesen (mindestens 1000 Bücher über diese Zeit). Meine eigene eindeutig kommunistische Grossmutter, bei der ich aufwuchs, hatte vier Söhne und zwei Töchter. Eine Tochter, die Jüngste, war meine Mutter; sie hat einen Mann geheiratet, der stammte aus einer bekannten Musikerfamilie, war selber Musiker (Kapellmeister in Treptow), aber er war SA-Mann aus Überzeugung. Dennoch spielten zwei Kommunisten in seiner 18-Mann-Kapelle. Nehmen wir die vier Söhne der kommunistischen Grossmutter: Einer arbeitete in der Grossmarkthalle am Alex und war, genau genommen, ein kleiner Ganove, polizeibekannt (Ringverein); der zweite war Fensterputzer, unpolitisch, aber als er die Meisterprüfung als Glas- und Gebäudereiniger ablegen wollte (und hatte), da trat er in die NSDAP ein. Er kam nicht aus dem Krieg zurück. Der dritte war schon seit 1932 in der Partei, später Blockwalter, andere Ämter, ein richtiger Goldfasan, bekennender Obernazi. Er ist 1945 in Uniform, mit der Pistole in der Hand, als die Russen einmarschierten, Richtung Alexanderplatz davongestürmt, um zu kämpfen. Man hat ihn nie wiedergesehen. Ich wage nicht zu formulieren, was die kommunistische Grossmutter empfunden haben mag. Sie starb 1944, zwei Monate bevor wir ausgebombt wurden. Man hatte sie übrigens 1933 nach dem Reichstagsbrand verhaftet; Vorwurf: Sie habe den angeblichen Brandstifter Van der Lubbe in der Nacht vor dem Brand beherbergt. Ihr Schwiegersohn, der SA-Mann/Musiker, der hat sie (in Uniform) aus der Untersuchungshaft im Polizeipräsidium am Alex befreit (obwohl er wusste, dass sie ihn nicht ausstehen konnte). Sie hat sich nie wieder politisch betätigt und wurde nie wieder behelligt.
Soviel, aus meiner persönlichen Sicht, zu den Mitmachern.
Herzliche Grüsse: Rudi Sander

16.05.2007 | 11:33

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