Riesenmaschine

03.07.2006 | 13:01 | Papierrascheln | Vermutungen über die Welt

Langer Rede kurzer Sinn


Hilfsmittel für und gegen Filibuster (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Aus der bayerischen Provinz kennt man das Absurdum, dass man beim gemütlichen Beisammensitzen einander zunächst mit freundlichen Formalien wie "S Glas in'd Hand, zum Wohl mitnand!" zuzutrinken pflegt, um sich bald darauf streitend kräftig einen aufzusalzen. Oft brechen schon wenig später die eingereichten Protestnoten mit aller Härte der Bedeutung über die Köpfe herein. Auf dem Weg dorthin kann man jedesmal der Aufforderung begegnen, einen doch gefälligst erst ausreden zu lassen. Ganz egal, ob einem nun grosser Sachverstand nachgerühmt wird oder man eher als Dorfdepp gilt, ein jeder will ausreden dürfen. Diese alte Sitte wurde in vielgestaltigen Schattierungen vom Rest der Welt übernommen und in den USA sogar in Form von Filibustern zu einem Abgeordnetenrecht hochgeschrieben.

Die Einforderung des Rechts auf Sprechen, bis man fertig ist, sei aber widersinnig, so meint der Münchner Philosophie-Emeritus Robert Spaemann. In seinem Buch "Personen. Versuche über den Unterschied zwischen 'etwas' und 'jemand'", in welchem er auf vielen trefflichen Seiten die Monumentalthesen des zeitgenössischen Reduktionismus und Utilitarismus bekämpft, findet sich eine kurze Passage über Kontextbezogenheit und -unabhängigkeit menschlicher Sprache. Die Bedingung wahrheitsfunktionalen Sprechens, so Spaemann, sei die Parzellisierung ihres Sinngehaltes – Träger von Wahrheit sei nicht die ganze Rede, sondern die einzelne Satzaussage. Streng kontextbezogen sei immer nur der falsche Satz – der wahre Satz hingegen bliebe stets kontextunabhängig. Gespräche sind nach Spaemann nur möglich, wenn niemand erst voll ausreden müsse, um etwas Wahres zu sagen. Denn der Holist müsse in letzter Konsequenz das ganze Leben des Redners abwarten und erst nach seinem Tod dürfe er über den Wahrheitsgehalt seines Sprechens urteilen. Kurz: Man darf einen Redner also bei jeder irrigen Behauptung unterbrechen und verbessern.

Indes praktiziert man in der Grundsuppe aller Dialektik – also in Bayern – in Antithese zum grossmauligen Ausredenwollen schon längst auch das Spaemannsche Prinzip. Nämlich mit Hilfe des Masskrugs. Bei hinreichend grossem Impuls ergibt sich sogar die holistische Synthese, bis zum Ende des Redners abgewartet zu haben. Doch, wie überall in der Postmoderne, beginnen auch diese altehrwürdigen Sitten sich allmählich zu zersetzen.

Ruben Schneider | Dauerhafter Link | Kommentare (9)


Kommentar #1 von der Zwergenmaschine:

Ruben, ich dachte bislang, du kommentierst nur – und viel. Ist das jetzt der Karrieresprung oder habe ich da nicht aufgepasst?

03.07.2006 | 13:49

Kommentar #2 von CYS:

Autoren und Kommentatoren tauschen diese Woche bei der Riesenmaschine. Ganz neue Sache. Web 3.0

03.07.2006 | 13:51

Kommentar #3 von Ruben:

Ja, das war eine kleine Erziehungsmassnahme, damit ich mal sehe, wie schwierig es ist, einen Riesenmaschinenartikel zu schreiben.

03.07.2006 | 15:12

Kommentar #4 von CFB:

Dass der Ruben bald auf der anderen Seite des Kommentarbuttons stehen würde, habe ich schon vor einer ganzen Weile kommen sehen. Kennt Stammautoren persönlich, bekommt seine Konfiguration von Frau Passig nachjustiert, abnorm dimensionierter Output usw. usf.. Über "Erziehungsmassnahme" und einwöchigen Plätzetausch kann ich daher nur lachen; da kommt noch mehr, das spür ich!
Der Artikel jedenfalls ist ganz gelungen, auch wenn der 2. Absatz an seine Kommentare erinnert.
Und Filibustern gabs hier vor gar nicht allzu langer Zeit schon mal, oder? Ansonsten verantwortungsvoller Umgang mit Links, nicht zu viel Geschnörkel, Philosophie und ein hübsches Bild. Gut.

03.07.2006 | 21:46

Kommentar #5 von glad:

ruben, schau dir deine konklusion im 2. absatz noch einmal an. die ist zwar kurz aber auch falsch.

04.07.2006 | 04:03

Kommentar #6 von Ruben:

Die Sache mit dem Redner unterbrechen, glad? Das ist Spaemanns Konklusion. Was er mit Kontextbezogenheit falscher Sätze meint, ist nicht, dass man bei falschen Sätzen den Kontext abwarten muss, sondern dass ein falscher Satz u.a. den ganzen Kontext versauen kann. Z.B. kann eine falsche Prämisse alle weiteren Schlüsse kaputt machen. Oder wenn ein Unschuldiger vor Gericht eine Falschaussage macht, stehen alle seine Aussagen im Zwielicht, egal wie redlich sie sein mögen. Oder wer lügt, muss immer aufpassen, dass sich im weiteren Kontext keine Ungereimtheiten ergeben, wer hingegen einen wahren Satz sagt, dem kann das herzlich wurschd sein.
Ich meine, Spaemann bringt das ganze hier in, haha, anderen Kontexten und nicht sehr ausführlich, und ich mache mir ja auch nur die Konklusion zu eigen (cum grano salis – Spaemann will auch nur an "wesentlichen Stellen" unterbrechen lassen, und da kann man dann eben wieder diskutieren, was jetzt wesentlich ist, usw.). Aber der Kontext ist jetzt hier etwas zu albern für ernsthafte Analyse.
Oh, das ist ein ganz neues Gefühl, die eigenen Beiträge zu kommentieren.

04.07.2006 | 09:15

Kommentar #7 von Harley Rothschild:

Dank eines Praktikum in Niederbayern bin ich rhetorisch selbstbewusster geworden und sondere in regelmässigen Abständen die Botschaft, "d'Masskriag san besser als d'Weltkriag" ab. Die übrige Unterhaltung darf dabei ununterbrochen weitergehen, da es sich um phatisches Sprechen handelt, wobei einfach nur wichtig ist, dass man dabeihockt. Die Wahrheit ihrerseits liegt auf der Hand. Widerworte und Schlägereien sind immer auf andere Ursachen zurückzuführen.

05.07.2006 | 12:10

Kommentar #8 von irgendwem:

hallo ruben, nochmal zu spaemann. danke für die erklärung zur erklärung. so wird ein schuh daraus.
glad

05.07.2006 | 14:21

Kommentar #9 von Ruben:

Gern geschehen. Zugegeben, ich habe das nicht so klar rausgebracht, aber das ist auch mein erster und darum etwas unbeholfener Beitrag, ich bitte um Nachsicht.

05.07.2006 | 14:45

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