21.10.2012 | 09:51 | Anderswo | Supertiere | Sachen kaufen
Radiergummis sind generell ein konfliktreiches Thema. Man erinnere sich nur an die viele träge Schultage überschattende Frage, wofür die blaue Seite ist. Es hiess, man könnte mit ihr Tinte radieren, aber das war eine Lüge. Auch ihr Geschmack war ein klein wenig fader als der der rötlichen Seite. Über die Kikkerland Design Inc. kann man seit einiger Zeit "Endangered Species Erasers" bestellen: bunte Radierer in der Form von Gorilla, Nashorn oder Eisbär. Zwei Prozent der Umsätze mit den Radierern gehen, so versichert die Website, an ein "Center for Biological Diversity". Auf Inhabitots.com – "Your Guide to green parenting, eco baby & green kids" [sic] – schreibt Julie Seguss hoffnungsvoll: "PVC-free Endangered Species Erasers Help Kids Remember Vanishing Animals".
Abgesehen von den im Tierschutz-Kontext etwas unglücklichen Formulierungen wie "Rhino Eraser" oder "Polar Bear Eraser", scheint der Nachhaltigkeitsgedanke dieses Produkts paradoxerweise erfüllt. Denn für die meisten Menschen stellt ein Radiergummi tatsächlich einen äusserst beständigen Gegenstand dar. Wer, der noch ganz bei Trost und frei von repetitiv-rhythmischen Zwangshandlungen ist, würde je einen ganzen Radiergummi wegradieren? Vorher kauft man sich doch einen neuen.
RHINO ERASER (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.) Aber sehen wir uns dieses rote Nashorn an. Geht nicht eine dunkle Anziehungskraft von dem hervorstehenden Horn aus? Bestimmt ist es weich und lässt sich hin und her biegen. Es wegzuradieren scheint ein Leichtes, irgendetwas tief in uns verlangt danach, vor allem, wenn man ein Kind ist, das weit mehr Freude an Metamorphose als an Nachhaltigkeit empfindet. Nach kurzer Zeit würde das Gumminashorn ohne sein Horn dastehen, so wie das echte Tier, an dessen Leid es erinnern soll. Chinesische Potenzmittel. Jemenitische Dolchgriffe.
Ausserdem: "Help Kids Remember"? So sicher es auch sein mag, dass das vom Aussterben bedrohte Tier niemals zur Gänze wegradiert werden wird, so sicher ist es auch, dass ein kleiner Teil, ein hervorstehender, auf alle Fälle dran glauben muss. Als erstes würde mit Sicherheit die Schnauze des Eisbären verschwinden, die Schädeldecke des Gorillas, das biegsame Horn. Und die Form des im Gedächtnis der kommenden Generation zu bewahrenden Tieres wäre für immer verändert.
Und doch bleibt es eine interessante Idee: ein Produkt so zu designen, dass es – unter idealen moralischen Vorraussetzungen des Käufers – nicht mehr nach seiner eigentlichen Funktion verwendet werden kann. Das Design des Produkts erweckt Mitleid und verhindert, dass das Produkt überhaupt je zum Einsatz kommt. 'Design vs. Funktion' als ethisches Dilemma. Aber der Gummi, der als verwendetes Material ebenfalls zum Designkonzept gehört, erweckt vielleicht auch andere, dem Mitleid entgegenwirkende Ideen – er ist weich, formbar, er schreit nach Veränderung.
Die "Endangered Wildlife Erasers" sind nicht die erste Erfindung ihrer Art. Eine Internetsuche ergab bei "endangered wildlife soap" tatsächlich einige Treffer. Die Drogerie-Kette The Body Shop verkaufte im Jahr 1991 ihre Animals in Danger Soap. Seifenstücke in der Form von bedrohten Tierarten, von deren Verkauf ebenfalls ein bestimmter Prozentsatz einen guten Zweck unterstützte. Doch wenn ein Seifenstück aufgebraucht war, kam, als Überraschung, eine kleine Spielfigur desselben Tieres zum Vorschein, die man sich dann tatsächlich irgendwo hinstellen konnte – für immer. Aber das war 1991.
Kommentar #1 von nik:
"Und doch bleibt es eine interessante Idee: ein Produkt so zu designen, dass es – unter idealen moralischen Vorraussetzungen des Käufers – nicht mehr nach seiner eigentlichen Funktion verwendet werden kann." Eine andere, weit verbreitete Taktik ist, Produkte zu entwickeln, die Ihre eigentliche Funktion bereits ab Werk gar nicht erfüllen können. Ein noch viel grösserer Geniestreich – Aus dem Supermarkt direkt in die Tonne. Ganze 1€-Ladenketten leben von diesem Prinzip.
21.10.2012 | 16:22
Kommentar #2 von www.streitblog.com:
Produkte die ab Werk ihren eigentlichen Zweck nicht erfüllen können, da tut sich ein Universum auf. Vielleicht eine gute Idee für eine neue Rubrik in diesem Blog. Ich fange mal an: Der Inhalt von Messerblöcken für 15EUR, alkoholfreies Bier, extradünne Kondome, Flip-Flops...
21.10.2012 | 16:59
Kommentar #3 von Leif Czerny:
was für ein brillianter erster absatz! grossartiger artikel! glückwunsch!
21.10.2012 | 21:41
Kommentar #4 von Slikk:
Aus Schultagen weiss jeder, dass Radiergummis in Form von etwas nie funktioniert haben und immer nur schmierten. Glühbirnen! Aber das mit der blauen Seite ist natürlich trefflich schön!
22.10.2012 | 00:44
Kommentar #5 von grEGOr:
Ist nicht der Radiergummi selbst eine endagered species? Wer benutzt noch einen? Wann hat der Autor zuletzt einen Radiergummi gekauft? Wann produziert Faceboogle den online-Radiergummi zum Verwischen der peinlichen Spuren, die man im Netz hinterlaesst? Wer stellt eigentlich all diese Fragen?
22.10.2012 | 21:29
Kommentar #6 von platzregend:
Ein wirklich hervorragender Artikel!
23.10.2012 | 12:06
Kommentar #7 von twobias:
Der Aktionskünstler und Autor Paul Piwordzik hat mehrere Radiergummis komplett wegradiert. 1971 hat er nämlich, nach dreijähriger Arbeit, einen Roman fertiggstellt. Den hatte er handschriftlich und mit Bleistift verfasst und ihn dann, vor Publikum, binnen sechs Tagen komplett wegradiert. Fast vier Radiergummis hat er dafür benötigt. Die Radiergummispäne hat er verkauft, für 100 Dollar pro Zehntelgramm.
09.12.2013 | 15:35
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SO GEHT'S:
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"I Saw the Devil", Jee-woon Kim (2010)
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