Riesenmaschine

16.12.2005 | 15:55 | Essen und Essenzielles | Papierrascheln

Die Wein-Comedy


0,75 l ausgezeichneter Bordeaux, im Eichenfass ausgebaut. (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Zugegeben, kurz stutzen machte uns dieses Angebot aus dem Leser-Shop der Berliner Zeitung schon: Der "Château Migraine – Dernier Cru" in der luxuriösen Holzbox mit Schiebedeckel für 14 Euros 95. Die näheren Umstände – dass der Wein der "Domaine Scharlatan (appellation souterraine pas controlée)" entstammt, dazu das Prädikat "Grand vin misèrable" trägt – entbergen das Wesen dieser "originellen Geschenkidee" dann doch überdeutlich, sodass es des Zusatzes "Cleverer Etikettenschwindel!" kaum noch bedurft hätte.

Der flaue Scherz gibt uns Gelegenheit, auf eine grundsätzliche Debatte einzugehen, die nicht nur die Zeitungsdiskussionen erhitzt, sondern auch zu einem Riss innerhalb der Riesenmaschine-Redaktion geführt hat: Der Wein-Krieg zwischen der EU und den USA. Nach den EU-Regelungen ist "Wein" eine geschützte Bezeichnung für ein Produkt mit streng reglementierter Herstellungsweise, die genaueren Details regelte bisher die EG-Verordnung 1493 aus dem Jahr 1999, die gleichermassen auch für importierte Weine gilt. Im Banausenland USA hingegen ist Wein ein Industrieprodukt und bald jedes Mittel und jeder Zusatz zur Herstellung recht. So gehört es zu den dortigen Usancen, Holzspäne im Teebeutel in den Wein zu hängen, um das typische Barrique-Aroma zu erzeugen. Ebenfalls dürfen dort auch Merlot, Sauvignon und Pinot Grigio in Pulverform als Basisbestandteil sogenannter "Wine making kits" verkauft werden, mittels derer sich durch Zugabe von warmen Wasser innerhalb von drei Wochen zu Hause der nämliche Tropfen herstellen lässt. In grossindustriellen Verfahren produzieren die Amis, so man den Gerüchten glauben darf, zudem aus Wasser, Alkohol und Aromastoffen schwere Rotweine, die nie einen Rebstock gesehen haben. Nun drängen sie darauf, ihre amüsanten Innovationen auch hierzulande unter Klarnamen vertreiben zu dürfen – mit Erfolg. In drei Tagen wird – wenn nichts Gravierendes dazwischen kommt – in Brüssel das Weinhandelsabkommen zwischen den USA und der EU unterschrieben, wonach ab 1. Januar 2006 auch hierzulande so ziemlich alles unter dem Label "Wein" vertrieben werden darf, was entfernt daran erinnert.

Der frisch und selbst ernannte Verbraucherpapst Horst Seehofer hat bereits seinen erbitterten Widerstand angedroht, und weiss dabei die deutschen Blut-und-Boden-Winzer hinter sich, die ihr "Terroir" sprich: ihre Scholle bis zum letzten Wermutstropfen verteidigen wollen. Eigentlich sollte damit ausgemacht sein, welcher Position die fortschrittsoptimistische Riesenmaschine in diesem Konflikt zuneigt, und allein die Aussicht, demnächst Wein in Pulverform ausprobieren zu können, stimmt uns frohgemut. Allerdings drehen uns in der Praxis bereits die aromaüberfrachteten kalifornischen Limo-Weinen, die unter der bestehenden Regelung ins Land durften, regelmässig der Magen um. Deshalb Vorschlag zur Güte: Der Ami-Wein darf rein, und wir bleiben trotzdem einstweilen beim Dornfelder.


Kommentar #1 von Jana Liebig:

Das kratzt mich alles nicht, denn ich werde jetzt Weinkenner (Vorsatz für 2006).

16.12.2005 | 16:17

Kommentar #2 von Tex:

Und als neue Weinkennerin kann ich Dir dann im September den Marathon du Medoc empfehlen, man läuft durch die geschichtsträchtigste Weingegend der Welt, alle Chateaus machen ihre Tore auf, durch die sich die 9000 Läufer mit grossem Gejohle wälzen, als stürmten sie die Bastille, und können den Hauswein saufen (Mouton Rothschild, Lafitte, Latour), Laufen und Saufen, ein wunderbares Konzept, ach ja, kostümiert muss man auch sein, und einen Toten zeitigt das auch jedes Mal. Und wenn man nicht vorher gestorben ist, gibt ab km 38 Austern

16.12.2005 | 16:29

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