Riesenmaschine

27.09.2006 | 05:55 | Gekaufte bezahlte Anzeige

Das neue System der Dinge


(Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
"Die Wohnung, das Milieu, die Gegenstände, mit denen sich ein Mensch umgibt, verraten fast alles über ihn," bemerkte Jean Baudrillard schon vor knapp 40 Jahren in Das System der Dinge: "Aus den neuesten Entwicklungen, den raffinierten technischen Erfindungen, aus den Eigenheiten und Zyklen der verschiedenen Moden sind die geheimen Wünsche der Zeitgenossen herauszulesen." Die durchschnittliche Zahl der Gegenstände in privaten Haushalten ist seither auf über 10.000 angestiegen. Vieles davon ist Schrott. Nicht weil es per se Schrott wäre, sondern weil es schlicht das Falsche ist, nicht zu uns passt, nicht mit unserem Leben kompatibel ist. Auch im Konsum schlummert, wie Michel de Certeau in "Die Kunst des Handelns" feststellt, ein Akt der Produktion. Allerdings wird diese Leistung selten anerkannt und nirgendwo unterrichtet. "Der protestantische Kapitalismus hat immer nur die Geschicklichkeit der Produktion kultiviert," schreibt Norbert Bolz in "Das konsumistische Manifest": "die consumption skills sind darüber verkümmert." So muss man es sehen: Es sind nicht schlechter Geschmack und Geistlosigkeit, die Menschen stets Schrott oder das Falsche kaufen lassen, sondern schlicht fehlende consumption skills.

Aber vielleicht bricht ja bald eine neue Ära des sachgerechten, sinnvollen Individualkonsums an – und zwar dank Internet. "The Long Tail" nennt Wired-Chefredakteur Chris Anderson das lange, flache Ende der Angebotskurve und die unendliche Sortimentstiefe, die in Online-Shops im Gegensatz zum stationären Einzelhandel anzutreffen ist, dort für einen zunehmenden Teil der Umsätze sorgt und laut Anderson eine Umstellung der gesamten Kultur von "hitgetrieben" auf "nischengetrieben" bewirken könnte: "Die Angebotsfülle lässt uns von Schnäppchenjägern, die gängige Marken- oder No-Name-Ware kaufen, zu Mini-Connaisseuren werden, indem wir unseren Geschmack mit Tausenden von kleinen Extras veredeln, die uns von anderen unterscheiden," schreibt er im Buch zum Blog zum meistgelesenen Wired-Artikel aller Zeiten. Allerdings funktionierte der "Long Tail" bislang vorwiegend bei digitalen Produkten und Zwitterwesen wie Büchern, während die Internetsuche nach physischen Produkten fragmentarisch und oft frustrierend blieb.

Seit heute gibt es die Portal-Seite DoorOne.de, die angetreten ist, die Produktsuche im Internet auf eine neue Ebene zu heben. Im Maschinenraum arbeitet eine Produktdatenbank mit Detailinformationen zu mehr als fünf Millionen Produkten von mehr als tausend Händlern. An Deck ist alles hübsch aufgeräumt und intuitiv zu bedienen. Neben der standardgemässen Preisvergleichs-Funktionalität liefert sie vor allem eines: Anleitung und Hilfestellung zum richtigen Konsum auch in abseitigen und entlegenen Nischensegmenten. In einer bis zum Jahresende laufenden Kooperation mit DoorOne.de wird Riesenmaschine sich im wöchentlichen Takt eine Produktkategorie vornehmen und im Selbstversuch testen und erforschen. Vielleicht gelingt es auf diese Weise, etwas über unsere geheimen Wünsche (s.o.) herauszubekommen.


Kommentar #1 von sternburg:

Eigentlich eine Spitzenidee: Werbung, die man kommentieren kann. Sollte im (Musik-)Fernsehen auch eingeführt werden ("Alles Scheisse mit der Scheisse, echt mal!").

27.09.2006 | 09:07

Kommentar #2 von B.A.:

Papperlapapp, consumption skills... Ich bleibe da lieber in der Nähe von Baudrillard, dessen so feine wie melancholische Deutung des unendlichen Konsums auf einen "nicht behebbaren Mangel an Realität" zielt. Diese Sicht der idealistischen (wenngleich aussichtslosen) Praxis erlaubt mir zB. ein grössere Milde gegenüber meinen durchweg unbefriedigenden aber dennoch selbst erworbenen Lampen, Salzstreuern, Bademänteln und PCs.

27.09.2006 | 10:44

Kommentar #3 von dirk.schroeder:

"...sind die geheimen Wünsche der Zeitgenossen herauszulesen." – Taj, allerdings irrte Baudrillard da. Denn nicht alles ist herauszulesen, sondern eben genau das Herauslesbare, was, so bestimmt, gerade das Nichtindividuelle ist. Das Auge des Soziologen ging sich sozusagen in der Weise auf den Leim, in der sich der Identitätssampler in die Verwechslung von Wunsch und Ausdruck verstrickt. Die gekauften Träume zeigen der Analyse immer nur die Warenhalde, die Lügen, auf die man selbst den Filter eingestellt hat. Kein Geheimnis.

27.09.2006 | 11:44

Kommentar #4 von irgendwem:

Gragra. Und bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie "ich kaufe" sagen.

27.09.2006 | 15:53

Kommentar #5 von Nachtlicht:

Zur einleitenden Baudrillard-Zitat:
Schon in den 20er Jahren schrieb Musil in "Der Mann ohne Eigenschaften":
"die Drohung 'Sage mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist', die er wiederholt in Kunstzeitschriften gelesen hatte, schwebte über seinem Haupt."
Was darauf hindeutet, dass dies schon vor dieser Zeit ein Gemeinplatz war. – Also wahrscheinlich eine zeitlose Ansicht, die in jedem Jahrhundert immer einmal wieder geäussert wird.

27.09.2006 | 16:17

Kommentar #6 von Loser Blissett:

Oder wie wir auf einer Keilschrift, gefunden in der Nähe von Uruk, in der Berliner Antikensammlung lesen: "... und dies alles, was über dem Stroh des Jüngsten [seiner Bettstatt] angebracht und eingeritzt ist, die Bilder der falschen Götter, die falschen Noten, die falschen Bekleidungen, hängt doch mit seinen falschen Gedanken und seinem falschen und frevelhaften [unleserlich] so sicher zusammen wie der jährliche Regen mit dem jährlichen Schlamm."

27.09.2006 | 16:43

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