Riesenmaschine

01.05.2007 | 19:13 | Berlin | Essen und Essenzielles

Vom Zauber des Nebenbeiten


Immerhin können sich nur sehr grosse Kinder die Hände verbrennen. (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Nebenbeiten. Ein nagelneues, famoses Wort für eine halbneue, halbfamose Tätigkeit. Es ist eine Kurzform von "nebenbei arbeiten" und bedeutet im vorliegenden Fall eine gleichzeitige Verbindung von Nutzflächenoptimierung, Just-in-Time Lean Production, Arbeitsprozess-
Parallelisierung und Verarschung. Wir sehen einen Supermarkt, in dem integriert ins Brotregal ein Backofen steht. Das ist die Nutzflächenoptimierung. Wir sehen auch, dass daneben ein Tablett unfertiger Brötchen steht, das genau dann in den Ofen geschoben wird, wenn der Brötchenvorrat zur Neige geht. Das ist die Just-in-Time Lean Production. Wir ahnen aber auch, dass der Backvorgang nicht unbedingt von Konditormeistern vorgenommen wird, sondern von Regalbefüllern, die vorher eine vierstündige Ofenschulung bekommen haben mögen. Das ist die Arbeitsprozess-Parallelisierung. Und schliesslich vermuten wir, dass diese nebenbeitenden Backbefüller niedrigentlohnt werden dürften, aber auch sie irgendwann eingespart werden, so dass als Steigerung nur die Flucht nach unten bleibt: schon in naher Zukunft werden die Kunden ihre Brötchen selbst backen müssen. Supermärkte werden nur noch Zutaten und Gerätschaften bereithalten, der Trend wird sich weiter verschärfen, indem die Entertainmentgesellschaft daraus ein Event macht und ganz am Ende kommt man beim Supermarktgang in eine riesige Halle, wo man die Kuh selbst künstlich besamen muss, damit man ein Jahr später im Rahmen eines Live-DJ-Sets ein Kalbsschnitzel überreicht bekommt. Wenn man in der Zwischenzeit Hunger hat, mäht man ein Feld und bäckt sich ein Brot in einem der Öfen im ehemaligen Brotregal.


Kommentar #1 von Frau Grasdackel:

Liebe Riesenmaschine-Autoren, bitte nicht von irgendwelchen automatischen Beitrag-Schreib-Maschinen abdrängen lassen! Würde sich nicht mit meinen in Form und Geschmack einzigartigen, im heimischen Ofen vor sich hinbackenden Brötchen vereinbaren lassen. Back to the roots zur Rettung der Individualität.

01.05.2007 | 20:19

Kommentar #2 von Loboloba:

Grandios, sie sprechen mir aus der Seele, Herr Lobo. Schon lange rechne ich damit, für die Wartezeiten am Bahnhof in irgendeiner Form Miete zahlen zu dürfen, defekte Rolltreppen als "Fitnessangebot" und arrogantes Kassenpersonal als "Konfliktbewältigungstraining" auf die Rechnung gesetzt zu bekommen. Zwar wird sich auch dann alles weiterdrehen wie bisher, aber man kann sich ja mit ein bisschen Grönemeyer eincremen.

01.05.2007 | 20:34

Kommentar #3 von Frau Grasdackel:

Oder soll dies gar als sanfte Hinführung der Riesenmaschine verstanden werden, dass ihre Leserschaft in nicht allzuferner Zukunft, nur unter Zurverfügungstellung einzelner Stichpunkte, die Beiträge selbst kreieren muss?

01.05.2007 | 21:00

Kommentar #4 von grEGOr:

Leider sind diese Befürchtungen keine Weltungergangsszenarien der fernen Zukunft sondern längst Realität geworden. Als vor einigen Jahren den Bäckereien der Sonntagsverkauf erlaubt wurde, habe ich diese Dienstleistung bei meinem Bäcker dankbar in Anspruch genommen. Wenige Wochen später ist der Laden an eine Bäckereikette gegangen. Nach Umbau habe ich mich nach den Sonntagsöffnungen erkundigt und erhielt als Antwort sonntags sei geschlossen aber sie hätten sehr gute Tiefkühlware, die ich mir gerne selber aufbacken dürfe. Das war wohlgemerkt nicht im Supermarkt, sondern beim B-Ä-C-K-E-R.
Als Literatur dazu empfehle ich Max Goldt "Der Sonderoscar für prima Synchronisation geht in diesem Jahr an den Film 'Fünf stattliche Herren und ein Flockenquetschen-Selbstbau-Set'" (Dez. 1993).

02.05.2007 | 00:00

Kommentar #5 von mir:

Und da hätten wir mal wieder die Rückführung zu alt Erprobten. Das gabs schon früher in der DDR.... Auf dem "Baumarkt" konnte man sich Samstag vormittag einfinden, zum Hohlblocksteine-Selber-Bauen. Aber jeder nur 10 Stück, es soll ja für alle reichen. Man konnte dabei sogar noch sparen. Fertige Betonsteine gab es für 2,80 Mark (die gab es natürlich nirgends), die zum Selberbauen für 2,50 Mark. Und da fragt noch eener, was wir 40 Jahre lang gemacht haben...wir haben die Zukunft geprobt.

02.05.2007 | 15:23

Kommentar #6 von Frank:

Also die beiden grossartigsten wirtschaftlichen Erfindungen in diesem Zusammenhang sind Blumen zum Selberpflücken und Erdbeeren zum Selberpflücken – grandios. Schade nur, dass die genialen Bauern dafür leider kaum mit dem Wirtschaftsnobelpreis prämiert wurden. Sie hätten es verdient gehabt. Ich versuche auch das Ganze auf meinen Tätigkeitsbereich zu übertragen, aber mein "Texte zum Selberschreiben" hat sich unverständlicherweise noch nicht durchgesetzt...kommt noch

03.05.2007 | 17:21

Kommentar #7 von beaver:

"Gedanken zum Selberdenken", als neues Produkt der Nebenbeiten-Nische, würde ich glatt unterstützendswürdig nennen. Aber mal im Ernst. Wo kämen wir denn hin, wenn alle ihre Sachen mit eigens dafür bereit gestellten Maschinen selber machen würden? Produktionsmittel, die nach eigenem Gutdünken genutzt werden? Ich bitte Sie, verehrte RiesenmaschinistInnen (Kommentatoren eingeschlossen), das wär ja Kommunismus! Wollen sie das wirklich? Wenn ja, tät ich mich insgeheim ein wenig, wirklich nur ein sozial verträgliches Bisschen freuen.

04.05.2007 | 02:36

Kommentar #8 von frank:

Nein, das wollen wir natürlich nicht. Wo könnte das denn nicht überall hinführen? "Politik zum Selberregieren" – total basisnah, mit der Möglichkeit "Steuern zum Selberanheben" und anschliessendem "Skandalisti zum selberzurücktretenen"
Das wollen wir nicht und es geht in die völlig falsche Richtung. Den Leuten fehlt einfach die Dienstleistungsmentalität. ICH habe sie. Denn ich möchte, dass Andere für mich Dinge tun. Selbertun kann man mir nicht als Mehrwert verkaufen, schon gar nicht als gesellschaftliches Avantgardeverhalten.
Schliesslich: Jedes selbstaufgebackene Brötchen vernichtet Ausbildungsplätze im Bäckergewerbe und führt damit unmittelbar zur Verwahrlosung der Jugend und verbaut berufliche Perspektiven gerade für Frühaufsteher. Wer kann das wollen?

04.05.2007 | 12:14

Kommentar #9 von praktikus:

Werden die Brötchen eigentlich stückweise berechnet? Hätte da nämlich eine interessante Idee zum Thema "Brötchenteig neu zusammenkneten – aus 5 mach 1".

04.05.2007 | 22:27

Kommentar #10 von Rudi K. Sander; www.textsteller.de:

O Zettelstraum, der du dich jetzt ohne Not (oder doch notgedrungen?) selber von selbst selbstverwirklichst. Wenn man dies hier völlig unvoreingenommen so beobachtet, welche Kreativität schlummert doch verborgen in den tiefen der Volksseele. Dieses Volk ist reif (wofür?), reif, meine ich, nicht nur sich selbst, nein, alles-alles zu verwirklichen, was ihre Vor-Vorfahren sich an Positivem ausmalten, als sie sich ausmalten, was zu erreichen wäre beim Strömen weg vom platten Lande und hin zu den Städten, diesen überbordenden Agglomeraten technisch-nutzenbringender Überbordung der wissenschaftlich fundierten Möglichkeiten: Jedem nach den Möglichkeiten des allmächtigen Kapitals, dessen Fähigkeit der Selbstvermehrung und Derivatisierung doch jedem zeigt, dass die Büchse der Pandora längst noch nicht vollkommen ausgeschüttet ist. Macht sie zum Automaten des Sichselbstübertreffens. Zeigt der Welt, das die Produktion im Zuge der Selbstreferenzialisierung sich imaginär in imaginären, raumlosen Räumen selber produzieren kann, und das alles ohne den ordinären Schweiss der Einfältigen. Für alles wird es eben bald Maschinen geben. Welch eine Lust wird es sein, einer eleganten und ökonomisch einwandfrei und materialsparend gebauten Lebensabschnittspartnerschaftsmaschine beim orgiastisch überfliessenden Vögeln zuzuschauen. Warum dann noch irgendwo selber Handanlegen?
Hier breche ich im lustvollen Gefühl der absoluten Überflüssigkeit ab.

05.05.2007 | 22:57

Kommentar #11 von JL:

Sie wollen mir also verklickern, "die Steigerung der Flucht nach unten" vom Niedriglöhner, sei der Kunde. Das ist glaube ich nicht so. Oder soll das die allgemeine Frustration in der sog. Service-Wüste darstellen? Irgendwie bin ich an dieser Stelle rausgekommen, da haperts bei mir. Ich dachte, ich wäre der König, und in Zukünft soll ich der Pisspage sein? Nicht mit mir!

05.05.2007 | 23:50

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