Riesenmaschine

17.05.2007 | 09:11 | Alles wird besser | Alles wird schlechter | Vermutungen über die Welt

Mögliche Welten


Andere Welten, andere Leute.
(Bild: ricardo.martin)
Der Optimist Leibniz sagte, diese Welt sei die beste aller möglichen Welten, der Pessimist Schopenhauer hielt entgegen: Diese Welt ist die schlechteste aller möglichen Welten, so scheisse, dass sie beim kleinsten Defekt gar nicht mehr existieren könne. Beide setzen voraus: Andere Welten sind möglich. Die Antike sah das noch wesentlich rigoroser: Möglich ist nur diese Welt, so wie sie uns eben unversöhnlich anspringt – Platons Demiurg schafft die Welt aus bereits vorhandener Urmaterie, nach der festen Schablone der ewigen Ideen. Mit dem Judentum ändert sich diese Weltsicht, der jüdische Gott ist allmächtig, er lässt sich nicht zum Büttel vorgegebener Strukturen machen und schafft Welten voraussetzungslos aus Nichts heraus. Zwischen Gott und die tatsächliche Welt schiebt sich jetzt eine Fülle möglicher Universen, und das Mittelalter diskutierte heftig über die Beschaffenheit solcher Welten und was in ihnen alles vorkommen könne: Etwa auch solch sinnlose Dinge wie viereckige Kreise, geflügelte Einhörner, Schlümpfe, Tokio Hotel? Wenigstens logisch widerspruchsfrei und ethisch vertretbar sollten die Dinge dann schon noch sein, kam man überein. Doch in der Neuzeit explodiert der Markt an Möglichkeiten: Andere Welten, neue Realisierbarkeiten, mögliche vieldimensionale Räume und vielwertige Logiken, mögliche postmoderne Pluralitäten, eine Unendlichkeit möglicher Paralleluniversen! Aber langsam. Alles geht nun doch nicht durch, wie man jetzt weiss, nicht alle erdenklichen Universen sind "creatable". Gewisse physikalische Mindeststandards müssen sie schon erfüllen, um möglich zu sein. Das hindert jedoch Welten wie unsere nicht daran, allerlei unmögliche Leute und Zustände zuzulassen. Der Streit zwischen Leibniz und Schopenhauer bleibt also weiterhin offen.

Ruben Schneider | Dauerhafter Link | Kommentare (13)


Kommentar #1 von Rudi K. Sander; www.textsteller.de:

Lieber Ruben Schneider,
mit einem so abgerundeten Vortrag starte ich gerne in diesen Donnerstag: Habe ihn markiert, kopiert, ausgedruckt und an die Pinwand geheftet.
Die Frage, was geht und was nicht, hat nicht nur die Meinungszeugen Leibnitz und Schopenhauer: Als Feyerabend verkündete (in postmoderner Überhebung) "anything goes", da antwortete ihm Luhmann "Nein, es geht nur, was geht". Auch alles kontingent Mögliche hängt eben in einem Netz von je spezifischen Bedingtheiten. Man lese zum Beispiel "Faltungen" von Remigius Bunia, der erklärt unabweisbar: "Beliebigkeit ist keine Option".
Einen schönen Tag wünscht: Rudi Sander

17.05.2007 | 10:51

Kommentar #2 von Lars:

Aber nomologisch-mögliche Welten und logisch-mögliche Welten sind ja zwei verschiedene Hüte! Logisch-mögliche Welten gibt es ja doch noch viel mehr, weil ich mir nämlich zumindest VORSTELLEN könnte, dass die physikalischen Gesetzte anders wären (Masse ist nicht träge). Was ich mir hingegen nicht vorstellen kann, ist dass es eine Welt gibt, in der der Satz vom Widerspruch nicht gilt. So haben wir es zumindest gelernt.

17.05.2007 | 13:11

Kommentar #3 von Ruben:

Ja, das ist der klassische Unterschied zwischen bloss logischer Möglichkeit und Realmöglichkeit. Aber sind denn alle maximal konsistenten Mengen von widerspruchsfreien Sachverhalten (logisch mögliche Welten) auch real möglich? Das oben verlinkte Paper meint, unter Voraussetzung des Quantenvakuums können real eben nicht "alle möglichen" Universen, sondern nur solche mit bestimmten Eigenschaften entstehen. Die Frage wäre dann eher, ob andere Quantenvacua möglich wären. Ich bin kein Physiker, ich weiss es nicht. Es ist generell aber nicht ausgemacht, ob Widerspruchsfreiheit alleine hinreicht für reale Möglichkeit. Denn es muss sich doch auch um eine Möglichkeit in einem Kontext handeln, oder, wie Leibniz sagte, um eine Kompatibilität oder Kompossibilität, die eben nicht nur blossen Nichtwiderspruch besagt. Echte Möglichkeit bedeutet doch Realisierbarkeit, denn welchen Sinn machen Möglichkeiten, die nicht realisierbar sind?

17.05.2007 | 14:02

Kommentar #4 von Frau Grasdackel:

Schopenhauer war insoweit Pessimist, als er sich verpflichtet fühlte, die uneinsichtige Ignoranz des über den Wolken schwebenden Optimismus abzuweisen. Im folgenden Zitat hat er klar auch Leibniz im Blick. "Wenn man den verstocktesten Optimisten durch die Krankenhospitäler, Lazarethe und chirurgischen Marterkammern, durch die Gefängnisse, Folterkammern und Sklavenställe, über Schlachtfelder und Gerichtsstätten führen, dann alle die finsteren Behausungen des Elends, wo es sich vor den Blicken kalter Neugier verkriecht, ihm öffnen und zum Schluss ihn in den Hungerthurm des Ugolino blicken lassen wollte, so würde sicherlich auch er zuletzt einsehn, welcher Art dieser meilleur des mondes possibles (die beste aller möglichen Welten) ist."

17.05.2007 | 17:08

Kommentar #5 von Ruben:

Entschuldigung, aber Schopenhauer war nicht nur "insoweit" Pessimist, als dass es um die Abwehr eines übertriebenen rationalistischen Optimismus ging. Denn eine solche Abwehr führt noch lange nicht zu Schopenhauers drastischer Ansicht, dass der Weltgrund selbst, der grundlos und endlos strebende Weltwille, an sich im Letzten völlig sinn- und wertlos ist.

17.05.2007 | 18:38

Kommentar #6 von Frau Grasdackel:

"Nichtsein ist jedem Sein vorzuziehen" deutet logischerweise auf einen gewissen Pessimismus hin. Als Begründer der Lebensphilosophie konnte Schopenhauer es nie einsehen, dass der Mensch, der ungefragt in die Welt hineingeboren wurde, auch nur einen Moment lang leiden muss. ("Tausend Genüsse sind nicht eine Qual werth.") Wird der Mensch nicht von anderen gequält ("Einer ist der Teufel des Anderen"), quält er sich selbst mit seinem endlosen Streben nach Glück. Sind dringende Bedürfnisse gestillt, melden sich schon wieder neue usw. Erlösung sieht er in der Askese, wobei hier sein Drang zum Buddhismus zum Vorschein kommt. Die Verneinung des Willens zum Leben könnte eine mögliche Erlösung bedeuten. Man kann zu seiner Philosophie stehen wie man will, Tatsache ist, dass er in all seinen Schriften als ein von Grund auf humoriger Mensch erscheint, der auch an spöttischen Vergleichen und sarkastischen Äusserungen, die mir manch eine Lachträne beschert haben, nicht spart. Ganz einfach ausgedrückt, wollte er nur, dass es allen Menschen gut geht. Sein Pessimisum relativiert sich vielleicht auch durch dieses Zitat "Je mehr ein Mensch des ganzen Ernstes fähig ist, desto herzlicher kann er lachen."

18.05.2007 | 05:20

Kommentar #7 von michael:

für leibniz wie für viele andere wird möglicherweise diese welt allein dadurch zur bestmöglichen, weil er selbst darin vorkommt...
allerdings habe ich auch nach fünf semestern das interesse an philosophie verloren, daher bin ich möglicherweise nicht auf dem laufenden.
für mich selbst funktioniert der gedanke jedenfalls bestens.

18.05.2007 | 07:04

Kommentar #8 von Ruben:

ad #6: Dass Schopenhauer ein humoriger Mensch war, ist geschenkt. Selbstverständlich denkt er an Erlösung, aber diese besteht in der Weltflucht. Selbstverständlich sind bei ihm die Objektivationen des Willens alle vollständig kausal determiniert und zweckmässig. Aber ihr Zweck ist die reine Selbsterhaltung, das schiere Streben um des Strebens willen. Das Ding an sich, der Wille, ist nicht dem Satz vom Grund unterworfen und absurd. Ich weiss nicht, wo Sie hier eine positive Weltsicht ableiten wollen, wenn der Urgrund aller Objektivationen selbst absurd ist. Der Wille ist auch in aporetischer Weise zugleich sowohl Grund für die positive Zuordnung der Objekte zueinander und ihre Einheit, als auch Grund für ihre Zerrissenheit in ihrem Kampf aller gegen alle, die in allen Stufen der Objektivationen des Willens vorhanden ist und ihn mit sich selbst entzweit (Der Wille, der durchgängig an sich selber zehrt, seine eigene Nahrung ist, etc., vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung, I, §27 ff.).
Schopenhauer lehrt konsequent die Verleugnung des Willens, die Verachtung der Welt und der Güter des Lebens als Weg der Erlösung, was ist daran nicht ein pessimistischer Blick auf diese Welt? Und es ist m.E. auch gerade das grosse Verdienst Schopenhauers, gezeigt zu haben, dass diese schon bei Kant und Leibniz vorkommende Denkfigur des endlosen Strebens um seiner selbst willen sich totläuft und in den Nihilismus führt. In seiner Kritik des endlosen Fortschritts steht Schopenhauer aber klar gegen die Grundwerte der Riesenmaschine. Verkaufen Sie uns diesen Mann hier nicht als Optimisten.

18.05.2007 | 14:52

Kommentar #9 von Frau Grasdackel:

Wie bei allem ist die Auslegung Schopenhauers Schriften Ansichtssache. Zum Glück ist die Philosophie im Gegensatz zu manch anderen Gebieten nicht durch festgesetzte Formeln in ihrem Spielraum eingeschränkt. Schopenhauer hat von jeher polarisiert, wobei zugegebenermassen die Anzahl der Positiv-Seher schon immer in der Minderheit war. Sie sehen wohl aus der Adler-Perspektive auf die ganze Sache, ich eher aus der Blaumeisen-Perspektive (wobei ich ihr hier einfach mal die Eigenschaft der Blauäugigkeit zuordne). Es ist halt wie immer, "man sieht nur das, was man sehen kann". Da Arthur Schopenhauer mein Lieblings-Philosoph ist, denke ich gar nicht daran, ihn der Riesenmaschine zu verkaufen, ich behalte ihn, schon alleine deshalb, um ihre Grundwerte nicht zu gefährden. "Das Schicksal mischt die Karten und wir spielen".

18.05.2007 | 17:45

Kommentar #10 von Kai Schreiber:

Andererseits aber: "Daher also ist, in allen Ländern, die Hauptbeschäftigung aller Gesellschaft das Kartenspiel geworden: es ist der Maaßstab des Werthes derselben und der deklarierte Bankrott an allen Gedanken. Weil sie nämlich keine Gedanken auszutauschen haben, tauschen sie Karten aus und suchen einander Gulden abzunehmen. O, klägliches Geschlecht!"

18.05.2007 | 19:08

Kommentar #11 von Ruben:

Aha, Auslegung ist Ansichtssache? Es ist mir leider wirklich schleierhaft, wie man angesichts etwa Band II, Kap. 46 von "Die Welt als Wille und Vorstellung" Schopenhauer einen Optimisten heissen kann (wenn Sie das mit "Positiv-Auslegung" meinten): "Der Optimismus ist [...] nicht nur eine falsche, sondern auch eine verderbliche Lehre", und kurz vorher wird sogar Hume für die Darlegung der "Unhaltbarkeit alles Optimismus" gelobt. Ich glaube, Schopenhauer wäre gar sehr unzufrieden, wenn man ihn zu den Optimisten zählen würde. Man könnte aber darin übereinkommen, dass der Schopenhauersche Pessimissmus ein versteckter Eudaimonismus ist, weil er ja sagt, wie man glücklich werden kann – in der Welt gibt's aber doch nur den vorübergehenden Quietiv, für das echte Glück muss diese schlechte Welt verneint werden.

18.05.2007 | 21:25

Kommentar #12 von Frau Grasdackel:

@#10 Kai Schreiber
Ich finde, man sollte nicht Äpfel mit Birnen vergleichen.
Aber falls Schopenhauer die Riesenmaschine gekannt hätte, wäre aus seiner Feder sicherlich das folgende Zitat entstanden: "Welch Glücksfall ist doch da die Riesenmaschine, die das verderbte Menschengeschlecht aus den Niederungen der Poker-Hölle direkt in die Zentrale der Intelligenz blicken lässt."

19.05.2007 | 03:42

Kommentar #13 von Frau Grasdackel:

@#11 Ruben
Lieber Ruben, jetzt sind Sie doch nicht so muffig. Ich habe "Die Welt als Wille und Vorstellung" auch gelesen bzw. teilweise auch mal überflogen. Klar ist Auslegung Ansichtssache. Ein und dieselbe Person kann sogar, wenn sie sich Jahre später ein und dasselbe Schriftwerk nochmal zu Gemüte zieht, durch geänderte oder gereiftere Ansicht zu einer neuen Auslegung kommen, was ja beweist, dass ihr Geist in Bewegung ist. Wie verschieden kann dann also die Auslegung von mehreren Personen in unterschiedlichen Reifheitsgraden sein. Ausserdem habe ich Schopenhauer nie einen Optimisten geheissen, nur weil ich ihn nicht als völligen Pessimisten habe dastehen lassen wollen, heisst da ja nicht automatisch im Umkehrschluss, dass er Optimist war. In meinem ersten Kommentar habe ich ja geschrieben, dass er sich dazu verpflichtet fühlte, die uneinsichtige Ignoranz des über den Wolken schwebenden Optimismus abzuweisen. Aber mit Ihrem letzten Satz kann ich mich anfreunden und bin glücklich, dass Sie uns damit doch noch zu einem kleinen Konsens verholfen haben. Und im übrigen "Verwirren Sie mich nicht weiter mit Tatsachen, meine Meinung steht fest."

19.05.2007 | 04:25

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