Riesenmaschine

18.12.2005 | 06:21 | Anderswo | Alles wird schlechter

Save the Hoodie


In England verboten: der Sensenmann (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Seit vielen Jahrhunderten wird das Kapuzenshirt, englisch Hoodie, von Minderheiten wie Mönchen, Rotkäppchen, Hooligans und Jugendlichen verehrt und verwendet. Damit muss Schluss sein, sagen nun viele besorgte Engländer aus unbestimmten Gründen. Schon seit längerem leisten sich Englands Polizei und Geheimdienste den etwas eigenwilligen Spleen, einfach alles über jeden herausfinden zu müssen. Als ein Nebenergebnis dieser Philosophie erhalten die Briten fast alleine die Videokameraindustrie am Laufen: Zwanzig Prozent aller weltweit installierten Überwachungskameras, insgesamt vier Millionen Systeme, stehen in Grossbritannien. Desweiteren legt man sich zur Zeit ein ganzes Arsenal an scharfen, sogenannten Anti-Terrorgesetzen zu, die das Leben im Land unkomplizierter gestalten werden – es ist dann einfach fast alles verboten. Im Zuge dieser Entwicklung ist es nur naheliegend, dass auch die Kapuze ins Schussfeuer gerät, schliesslich hat die englische Obrigkeit, zum Beispiel der Sheriff von Nottingham, schlechte Erfahrungen mit Kapuzenträgern gemacht, insbesondere im Wald von Sherwood. Die englische Labour-Regierung unterstützt daher offen, wenn auch etwas dümmlich, dass Einkaufszentren und Schulen neuerdings das Tragen von Kapuzenshirts verbieten. Seltsam ist, dass sich gerade die Kapuzenträger mit Nachdruck wehren, zum Beispiel im Rahmen der "Save the Hoodie" Kampagne von Lady Sovereign. Womöglich wurde hier ein entscheidender Nerv getroffen – solange sie dabei eine Kapuze tragen dürfen, ist Engländern offenbar alles egal. Vielleicht sollte man die empfindlichen Hoodies lieber in Ruhe lassen, immerhin gibt es wesentlich effektivere Varianten, das Gesicht zu verbergen, die ebenfalls noch nicht verboten sind, zum Beispiel Sonnenbrillen, Atemschutzmasken oder einfach Haare im Gesicht. Na los, England, dagegen muss man doch was unternehmen.

Aleks Scholz | Dauerhafter Link


17.12.2005 | 18:22 | Anderswo | Alles wird schlechter

Das Waldemar Massaker


(Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Nachdem dem türkischen Schriftsteller Orhan Parmuk momentan der Prozess gemacht wird, weil er das türkische Volk verunglimpft hat, indem er an das Massaker an den Kurden und Armeniern erinnerte, erinnern wir uns an einen anderen ca. neun Jahre zurückliegenden Fall von Volksverunglimpfung, als nämlich der Kärntner Lokalpolitiker Jörg Haider, mühsam seinen Neid unterdrückend, dem damaligen österreichischen Bundeskanzler Franz Vranitzky vorwarf, er sei "der Weltmeister im Belügen der Österreicher". Der deutsche Dramatiker Max Goldt setzte noch eins drauf, indem er fragte, ob diese Meisterschaft jedes Jahr ausgeübt werden würde. Er wollte nämlich auch gerne einmal mitmachen, und proklamierte in einem offenen Brief an das Volk, dass die Jahrtausendwendenfeier erstens bereits am 1.1.1997, und zweitens nicht wie üblich auf dem Stephansplatz stattfände, weil dort die Weltmeisterschaft im Tortenheben der Frauenwahnsinnigmacher ausgetragen würde, das Jahreswechselfest würde dadurch kurzfristig in den Richard-Waldemar-Park verlegt. "Geht alle hin, denn es wird euer letztes schönes Silvester. Am 1.7.97 wird Österreich ja von Grossbritannien an China zurückgegeben".

Also direkt etwas Parkartiges hatte er ja nicht unbedingt anzubieten, unten stand die Sonderabfallannahmestelle inmitten dampfender und gärender Trennmülltonnen, gleich daneben, nur durch ein Hartlaubgestrüppensemble voneinander getrennt, eine öffentliche Pissstube, ein von einer flackernden Neonröhre beleuchteter, gekachelter, odeur-und fliegenreicher Raum. Auf den schiefen Bänken ruhten sich Drogensüchtige von den täglichen Mühen und Qualen des Tages aus. Das alles ist jetzt vom Erdboden weggefräst worden, momentan schabt man sich in Sedimente vor, die noch kein Mensch je zuvor gesehen hat, zur Zeit ist man in eine Schicht hellgrauer Tonerde vorgedrungen. Was in dieses Loch kommt, ist noch nicht ganz klar, vermutlich ein riesiges Hundeklo.

Tex Rubinowitz | Dauerhafter Link


17.12.2005 | 11:47 | Alles wird besser

Rettet die Liebe


Früh aufstehen ist schwer (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Seit mehreren Stunden schon warten wir gespannt auf den legitimen Nachfolger dieser Bloggeschichte, die sich ja wohl mittlerweile eindeutig in eine Sackgasse manövriert hat. Die Erlösung kommt völlig unerwartet vom Chemie-Konzern Bayer, der in Zusammenarbeit mit Autorin Beatrice Poschenrieder ein ganz heisses Ding losgetreten hat, die Online-Novela "Rettet die Liebe". Kurz zur Systematik: Während auf den privaten Homepages der 90er vorwiegend Uninteressantes inkohärent und unschön aufbereitet wurde, bieten Blogs durchweg Inkohärentes, aber wenigstens interessant und schön dargestellt. Die Online-Novela, wie sie von Bayer vorgestellt wird, widmet sich in extrem peinlicher Form dem Thema Impotenz, und bietet damit Unschönes in durchweg kohärenter und uninteressanter Form. Das ist ein phantastischer Schachzug, der Kreis schliesst sich und man wird nichts anderes tun können, als einfach das Konzept zu kopieren. Aber es wird schwer, denn was soll man jetzt noch als schlagkräftiges Grundthema wählen? Vielleicht Folteropfer durch den Kakao ziehen? Analphantasien öffentlich ausbreiten? Betroffenheit heucheln, weil elektrische Geräte immer häufiger den Geist aufgeben? Man ist etwas hilflos. Ergänzend bietet Bayer reizvolle Zusatzfeatures, zum Beispiel downloadfähige Jerry-Hall-Poster und das geheimnisvolle "Vitalsexual-Webcoaching" – auch dies wird sehr schwer zu übertreffen sein. Vorerst bleibt keine Wahl, man muss so tun, als ginge einen das alles nichts an. Zumindest sollte man noch darauf hinweisen, dass sich die etwas zu bedrückende "Musik" bei "Rettet die Liebe" einfach rechts oben abschalten lässt. Dieses Thema wurde uns von Riesenmaschinen-Fan Julia empfohlen, man weiss nicht warum, sollte aber dankbar sein.

Aleks Scholz | Dauerhafter Link


17.12.2005 | 03:31 | Was fehlt | Sachen anziehen

Warum und zu welchem Ende tragen wir Schnürsenkel?


(Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Als 1991 das Puma Disc System eingeführt wurde, war klar, dass es eine gute Idee war, die schon ziemlich alte Schnürsenkeltechnik durch etwas anderes abzulösen. Dass das Puma Disc System dieses Andere nicht sein würde, war aber mindestens ebenso klar. Fast fünfzehn Jahre nach diesem kurzen Moment der Hoffnung hat sich an der Schuhverschliessungsfront nichts Wesentliches getan – bis auf Ian's Shoelace Site, die den beklagenswerten Zustand immerhin dokumentiert und diverse Hacks und Patches für gebräuchliche Schnürsenkelprobleme bietet, und die abgebildeten Speed Laces zum Nachrüsten herkömmlicher Schuhe (gesehen bei Kevin Kelly). Beim Betrachten der Speed Laces stellt sich die Hoffnung, aber auch die Enttäuschung von damals wieder ein: Wer will schon klobige graue Umlenkrollen auf seine Schuhe montieren? Oder noch alberneren Kram?
Über die Kulturtechniken der Oberschicht im 19. Jahrhundert wird vermutet, sie seien vor allem deshalb von so überschiessender Komplexität gewesen, damit die Mittelschichten nicht so mir nichts, dir nichts nach oben gelangen konnten. Vielleicht halten sich die unpraktischen Schnürsenkel aus ähnlichen Gründen so hartnäckig, und vielleicht gibt sich deshalb niemand Mühe bei der Entwicklung von Alternativen: weil wir den daumenlosen Tieren hin und wieder zeigen müssen, dass Mutter Evolution uns lieber hat als sie. Nicht von ungefähr sind Schuhe ja unten angebracht, wo sie auch von kleinen und kleinsten Tieren sehr gut gesehen werden können. Tragen wir unsere Schnürsenkel also so lange mit Stolz, bis jemand hingeht und etwas noch Komplizierteres und Unpraktischeres erfindet.


16.12.2005 | 15:55 | Essen und Essenzielles | Papierrascheln

Die Wein-Comedy


0,75 l ausgezeichneter Bordeaux, im Eichenfass ausgebaut. (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Zugegeben, kurz stutzen machte uns dieses Angebot aus dem Leser-Shop der Berliner Zeitung schon: Der "Château Migraine – Dernier Cru" in der luxuriösen Holzbox mit Schiebedeckel für 14 Euros 95. Die näheren Umstände – dass der Wein der "Domaine Scharlatan (appellation souterraine pas controlée)" entstammt, dazu das Prädikat "Grand vin misèrable" trägt – entbergen das Wesen dieser "originellen Geschenkidee" dann doch überdeutlich, sodass es des Zusatzes "Cleverer Etikettenschwindel!" kaum noch bedurft hätte.

Der flaue Scherz gibt uns Gelegenheit, auf eine grundsätzliche Debatte einzugehen, die nicht nur die Zeitungsdiskussionen erhitzt, sondern auch zu einem Riss innerhalb der Riesenmaschine-Redaktion geführt hat: Der Wein-Krieg zwischen der EU und den USA. Nach den EU-Regelungen ist "Wein" eine geschützte Bezeichnung für ein Produkt mit streng reglementierter Herstellungsweise, die genaueren Details regelte bisher die EG-Verordnung 1493 aus dem Jahr 1999, die gleichermassen auch für importierte Weine gilt. Im Banausenland USA hingegen ist Wein ein Industrieprodukt und bald jedes Mittel und jeder Zusatz zur Herstellung recht. So gehört es zu den dortigen Usancen, Holzspäne im Teebeutel in den Wein zu hängen, um das typische Barrique-Aroma zu erzeugen. Ebenfalls dürfen dort auch Merlot, Sauvignon und Pinot Grigio in Pulverform als Basisbestandteil sogenannter "Wine making kits" verkauft werden, mittels derer sich durch Zugabe von warmen Wasser innerhalb von drei Wochen zu Hause der nämliche Tropfen herstellen lässt. In grossindustriellen Verfahren produzieren die Amis, so man den Gerüchten glauben darf, zudem aus Wasser, Alkohol und Aromastoffen schwere Rotweine, die nie einen Rebstock gesehen haben. Nun drängen sie darauf, ihre amüsanten Innovationen auch hierzulande unter Klarnamen vertreiben zu dürfen – mit Erfolg. In drei Tagen wird – wenn nichts Gravierendes dazwischen kommt – in Brüssel das Weinhandelsabkommen zwischen den USA und der EU unterschrieben, wonach ab 1. Januar 2006 auch hierzulande so ziemlich alles unter dem Label "Wein" vertrieben werden darf, was entfernt daran erinnert.

Der frisch und selbst ernannte Verbraucherpapst Horst Seehofer hat bereits seinen erbitterten Widerstand angedroht, und weiss dabei die deutschen Blut-und-Boden-Winzer hinter sich, die ihr "Terroir" sprich: ihre Scholle bis zum letzten Wermutstropfen verteidigen wollen. Eigentlich sollte damit ausgemacht sein, welcher Position die fortschrittsoptimistische Riesenmaschine in diesem Konflikt zuneigt, und allein die Aussicht, demnächst Wein in Pulverform ausprobieren zu können, stimmt uns frohgemut. Allerdings drehen uns in der Praxis bereits die aromaüberfrachteten kalifornischen Limo-Weinen, die unter der bestehenden Regelung ins Land durften, regelmässig der Magen um. Deshalb Vorschlag zur Güte: Der Ami-Wein darf rein, und wir bleiben trotzdem einstweilen beim Dornfelder.


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"Bye Bye Berlusconi", Jan Henrik Stahlberg (2006)

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