Riesenmaschine

17.11.2006 | 01:35 | Fakten und Figuren

Der Blogg


(Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
In Zeiten grassierenden Illettrismusses, also des Defekts, Buchstaben zwar erkennen und lesen zu können, aber häufig den Kontext eines Wortes nicht zu begreifen, taucht hin und wieder ein noch nicht von Pschyrembel oder Wikipedia erfasstes Phänomen auf, das des so genannten Wunschverlesens. Auf dem Zettelchen, das man in der Klasse zugeschoben bekommt, auf dem "Du bist doof" steht, liest man z.B. statt doof lieb.
Illettristische Internetverdorbene lesen vielleicht in der gestern erschienen Opazeitung DIE ZEIT im grossen Hans-Haacke-Interview von Hanno Rautenberg: "Ich war fürchterlich naiv, ich habe ein Werk an Flickr verkauft. Er ist ein Nazikriegsgewinnler der dritten Generation". Wenn man noch einen Restverstand hat, wundert man sich kurz, was die Fotomüllhalde mit dem Terrorregime zu tun haben soll, und dieser Moment, wo sich das Missverständnis in zwei eigenständige Bilder teilt, kann ebenso Endorphine freisetzen, als ob man an einem Gummiseil eine Brücke runterspringt, oder im Dschungel ein komisch geformtes, unbekanntes Tier entdeckt hat. Im selben Interview fragt Rautenberg Haacke: "Aber der Bild-Blogg, der die Fehler der Zeitung auflistet, könnte doch eine Hans-Haacke-Arbeit sein." Hatte man sich da eben schon wieder verlesen? Nein, so steht es da. Aber was ist Der Blogg? Im Internet wird man fündig: Der Blogg ist eine Figur des Kinderbuchautors Dr Theodor Seuss (aus "The shape of me and other stuff"). Und auch wenn man die Zusammenhänge so ganz klar nicht sieht, wird schon wieder eine Handvoll Endorphine ausgeschüttet.

Tex Rubinowitz | Dauerhafter Link | Kommentare (6)


12.11.2006 | 18:24 | Alles wird besser | Fakten und Figuren

Knie kabellos

Im Knie sitzt die Seele des Menschen, sagen jedenfalls irgendwelche Indianer. Wenn das stimmt, dann hat man nach dem Einbau künstlicher Kniegelenke endlich Ruhe vor dem faulen Schmarotzer, der seine Zeit ansonsten damit verbringt, die Füsse hochzulegen. Ausserdem erfährt man so endlich, was das (nun seelenlose) Titan-Knie den ganzen langen Tag so treibt, denn die Firma MicroStrain hat es geschafft, eine Wanze ins Knie einzubauen. Bisher meldet sie nur unnütze Testdaten, Kräfte und Drehmomente etwa, die auf das Knie wirken, einfach nur Zahlen mit Kommastellen also, aber das immerhin kabellos, energielos und vollautomatisch. Was man damit in Zukunft alles noch anfangen könnte bzw. wird! Man wird Bilder aus dem Knie (Blitzlicht) senden und live ins Internet stellen. Man wird per Skype mit seinem Knie reden können. Man wird jederzeit wissen, ob das Knie noch da ist und wie es ihm geht, also auch, wenn man auf Reisen ist. Man wird sein Knie bei Second Life anmelden, und beide Knie werden in Online-Rollenspielen gegeneinander antreten. Herrliche Möglichkeiten, dafür kann man ja wohl getrost auf die Seele verzichten.


11.11.2006 | 19:05 | Fakten und Figuren

Datenverlust als Weg

Als die Krankheiten noch etwas bedeuteten, konnte man eben bei Halsweh die Zumutungen der Neuzeit nicht mehr schlucken, und wer Fusspilz hatte, dem zehrte der Zweifel die Fundamente seines Daseins auf. Heute sind Krankheiten nur noch Krankheiten, aber vielleicht haben ja wenigstens unsere Fehlleistungen noch einen Sinn?

In Oxford wurde gerade der Zusammenhang zwischen versehentlich ungespeicherten Daten und anderen Fehlleistungen erforscht (via Improbable Research). Wer in den letzten zweieinhalb Jahren seine Dissertation eingebüsst hat, weil er zu speichern vergass, dessen allgemeine Unfallhäufigkeit ist also nicht erhöht, auch Linkshänder leben in dieser Hinsicht nicht riskanter als andere Menschen. Wohl aber gibt es einen Zusammenhang zwischen Schusseligkeit ("Werfen Sie oft die Streichholzschachtel weg und behalten das abgebrannte Streichholz?") und Datenverlust. Wer sich in dieser Beschreibung wiedererkennt, aktiviert daher am besten überall die "Auto-Speichern alle 5 Minuten"-Option und vermeidet den Umgang mit Handgranaten.


10.11.2006 | 19:05 | Fakten und Figuren

Die Geschichte vom vergoldeten Jungen


Nicht immer reicht ein Bauklotz-Test aus.
(Foto: Holger Zscheyge)
Nehmen wir an, Sie wurden am Gehirn operiert. Gerade sind Sie aus dem Koma erwacht. Ihnen steht nun das Spiessrutenlaufen neuropsychologischer Tests bevor, schliesslich will man herausfinden, ob das Sägen, Schneiden und Schaben Ihre Gedächtnis-, Ihre Denk- oder vielleicht Ihre Ich-Funktion in Mitleidenschaft gezogen hat. Ein Neuropsychologe, sagen wir Stephen G. Waxman von der Yale-Universität, tritt also an Ihr Bett und bittet Sie, den Namen des Präsidenten zu nennen, in Siebenerschritten von hundert zurückzuzählen und zu erklären, was ein Auto mit einem Boot verbindet. Auch in Ihrem lädierten Zustand kriegen Sie das mühelos hin. Aber jetzt fordert Dr. Waxman Sie auf, eine kleine Geschichte zu interpretieren: die Königsdisziplin für jedes frisch operierte Gehirn. Die Geschichte, die Waxman in seinem Standardwerk Clinical Neuroanatomy empfiehlt (gesehen bei Joan Didion), geht so: Vor etwa dreihundert Jahren, bei der Krönung eines Papstes, wurde ein kleiner Junge ausgewählt, um die Rolle eines Engels zu spielen. Damit seine Erscheinung möglichst prächtig wäre, wurde der Junge von Kopf bis Fuss in eine Goldfolie gehüllt. Der kleine Junge wurde krank, und obwohl man alles Menschenmögliche für seine Genesung tat, ausser die fatale Goldfolie zu entfernen, starb er innerhalb von wenigen Stunden. Wie bitte? Können Sie DAS interpretieren? Geht es um das schlechte Karma des Katholizismus? Darum, dass nicht alles, was Gold ist, glänzt? Oder halten Sie Stephen G. Waxman jetzt schlicht für verrückt?

Philipp Felsch | Dauerhafter Link | Kommentare (5)


08.11.2006 | 17:59 | Fakten und Figuren

Der Punkschalthebel


Sag mir, wo die schmutzigen Gesichter sind (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Volten, Metaebenen oder Trends in der Musik nachvollziehen zu können, ist immer ein guter Gradmesser, an dem sich feststellen lässt, wie weit man vergreist ist. Momentan machen es einem aber gerade zwei aktuelle Lieder sehr schwer, noch irgendetwas zu erkennen, in welche Richtung z.B. gefahren wird.
Das eine ist "Ridin" von einem Rapper namens Chamillionaire, es ist weniger der Song, ein flotter, gehetzter Ohrwurm, als der Name des Interpreten (1,79 cm gross laut Wikipedia). Was ist ein Chamillionaire? Ein Kofferwort für einen Hochstapler? Einer, der sich wie ein Chamäleon anpassen kann und so tut, als sei er reich? Oder ist das Präfix Cha ein Akronym für die Certified Horsemanship Association, oder doch nur das japanische Wort für Tee? Teemillionär? Sah man schon mal einen Afroamerikaner auf einem Pferd sitzen, Tee trinkend gar?

Das andere verstörende Lied ist von einer schottischen Schreckschraube namens Sandi Thom (Bild), musikalisch ein sparsam instrumentierter A-capella-Song, in dem sie jodelt I wish I was a Punk rocker, die nächsten Zeilen aber lauten "...with flowers in my hair, in 77 and 69 revolution was in the air", es wird eine krude Vergangenheitsglorifizierung entworfen, die darin gipfelt, dass "footballers still had long hair and dirt across their face". Die 69er Revolution? Wo? Gegen was? Verkrustete Kopulationsgewohnheiten? Oder ist die gleichnamige Tanzkapelle aus Vaterstetten gemeint? Aber dass das Lied nicht der Logik von Dada folgt, offenbart sich erst in der deutschen Übersetzung eines Internetübersetzungsdienstes: Ich wünsche, dass ich ein Punk-Schalthebel war. Tja, wer will das nicht, Schätzchen, die Zeit einfach qua Schalthebel umlegen?


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