Riesenmaschine

23.10.2006 | 05:23 | Anderswo | Was fehlt | Papierrascheln

Die Zukunft von keine Arbeit

Die einen glauben, das Internet schaffe Arbeit oder vermittele sie wenigstens besser als jedes andere Medium. Die anderen leben in China. Das ist zwar das Land mit der grössten, gewiss aber zweitgrössten Internet-User-Zahl der Welt und den allermeisten Bloggern: 17,5 Millionen registrierte Blogs nennt China Daily, und Reuters legte gerade mit 34 Millionen Blogs, 17 Millionen Bloggern und 75 Millionen Lesern noch mal einen drauf. Doch in genau demselben China stellen sich junge Menschen, wenn sie Arbeit brauchen, nicht ins Internet, sondern lieber auf die Strasse, so wie hier vor den Xinhua-Buchladen in Urumqi.

Es sind alle Studenten der Universität von Xinjiang, die ganz im Stil der europäischen und amerikanischen Moderne mithilfe so genannter Zettel Jobs als Nachhilfelehrer (Mathe, Physik, Chemie, Englisch) suchen. Aber warum stehen diese Menschen so obszön konkret da? Warum sind sie nicht wenigstens etwas virtueller? Weil die Sonne immer so schön in Urumqi scheint, das übrigens verdeutscht Schöneweide heisst? Möglich. Oder weil die Internetpenetrationsrate mit 9,4% in China dann doch wieder nicht so hoch ist? Eventuell auch das. Aber vielleicht wollen uns die sympathischen jungen Leute auch nur sagen: Internet is over! Es war nur eine kurzfristige Mode in der Geschichte der Menschheit und ihrer Medien; eine Grille des Weltgeistes, so wie das Hula-Hooptanzen, der Dreissigjährige Krieg oder das Gegendassystemsein früher.

Die Frau in dem roten Shirt dagegen ist noch netzgläubig und nur mitgekommen, um Sie nur einmal aus dem Internet heraus leer anzublicken. Überraschend und auf unerklärliche Weise wurde ihr Traum wahr. Das wiederum spricht dafür, dass es mit dem Internet doch noch nicht vorbei ist. Jedenfalls nicht so ganz.

Christian Y. Schmidt | Dauerhafter Link | Kommentare (11)


13.10.2006 | 20:00 | Papierrascheln

Bunker Table Book


(Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Wer wollte nicht schon einmal die technischen Spezifikationen der Panzerabwehrrakete Rotkäppchen oder des Landkreuzers P-1500 "Monster" nachschlagen, hatte aber gerade blöderweise kein Internet dabei? Dem Krieg oder doch zumindest der kriegerischen Absicht verdankt man ja, man kann es gar nicht oft genug sagen, letztlich doch einige der pfiffigsten Innovationen und Konversationen überhaupt. Wo wären wir etwa heute, ohne die Erfindung des Schnauzbarts, des Granatwerfers oder der nicht wirklich warmen Socken?

Weitaus mehr Dank allerdings, so steht zumindest zu vermuten, ist all jenen Kriegserfindungen geschuldet, die so aus der Spur waren, dass sie ausser sich selbst wohl kaum jemals ernsthaft jemanden gefährdeten. Diesem bislang ausgesprochen unterschätzten Aspekt der Geschichte des zweiten Weltkrieges widmet Zack Parsons sein soeben erschienenes "My Tank is fight!". Über 220 Seiten erfreut uns der hämische Experte nicht nur mit kompetenten Verrissen der jeweiligen Technologien, sondern auch mit seltsam ernst gemeint wirkenden Illustrationen, hypothethischen Einsatzgeschichten, intimen Einzelheiten über Traudl aus dem Führerbunker sowie detaillierten Einsichten in den jeweils geplanten technischen Schnickschnack. Als Bonus gibt es obendrauf, wie in jedem guten amerikanischen Sachbuch, selbst erfundene deutsche Wörter, die ebenfalls nicht so super funktionieren (Nachtsichtgeraten). Stringenz, mon amour. Da heisst es: jetzt schon an Weihnachten denken.

Dieser Beitrag ist ein Update zu: Endlich: Amerika erfindet das Kampfübersetzen


05.10.2006 | 18:12 | Essen und Essenzielles | Papierrascheln

Finsler im Fülscher


Falsche Spiegeleier, Nr.1149 (Bild: Johanna Fülscher)

Pomeranzenbrötchen Nr.1521, und anderes (Bild: Hans Finsler)

Falscher Salm Nr.194, Schwedische Eier Nr.159 und anderes auf Sulz Nr.165 (Bild: Bernhard Moosbrugger)
Die einen hängen in Frankfurt auf der Buchmesse auf blauen Sofas rum und stellen ihre Werke vor. Die anderen müssen zuhause bleiben. Und dort können sie nicht viel anderes tun als Bilder anschauen oder Fotzelschnitten kochen.
Diese Tätigkeiten aufs trefflichste verbinden kann, wer ein Fülscher-Kochbuch sein eigen nennt. Dieses nämlich glänzt nicht nur durch sein Fotzelschnittenrezept (Nr.1670) und seine 1758 weiteren Rezepte 'von internationalem Niveau', sondern ebenso durch seine Abbildungen, welche beim Kochen ganz nebenbei eine kleine Kulturgeschichte der kulinarischen Illustration erzählen.
Die funktioniert im Fülscher wie die Schweizerische Altersvorsorge: auf drei Säulen aus drei Epochen. Zuerst hat Johanna Fülscher in den 20er Jahren jedes einzelne Rezept mit einer kleinen, lehrreichen Tuschezeichnung illustriert (beachtlich: Äpfel als Igel, Nr. 1095). Später, in den 40er Jahren, hat Hans Finsler, das Bauhaus der Schweizer Photographie, eine dem Gegenstand – hier Kekse – angemessene Bildsprache zu entwickeln versucht. Diese Neue Sachlichkeit trifft dann völlig unvermittelt auf die Bilder eines offensichtlich Perversen von Bernhard Moosbrugger, einem Schüler von Finsler. Ganz im Geiste der 70er Jahre wird hier das Essen immer symmetrisch, aber lieber noch gepunktet, gemustert (Rauten!), geschichtet oder getürmt angerichtet – wobei die Königsdisziplin wohl die Gegenständlichkeit (Tannenzapfen mit Mokka-Buttercrème, besteckt mit Mandelschuppen, Nr.1363) gewesen sein dürfte.

Die verlegerische Geschichte des Fülscherkochbuchs verliert sich irgendwann im Dunkeln, dem Weltbild Verlag gebührt Dank dafür, ungefähr die achte Auflage jetzt wieder neu aufgelegt zu haben. Stören wir uns nicht zu sehr am stinkenden Papier dieser Ausgabe, der miesen Druckqualität der Finslerbilder oder daran, dass aus unerfindlichen Gründen fast alle Tuschzeichnungen fehlen, freuen wir uns vielmehr am zurückgewonnen Wissen. Denn wer weiss denn heute noch, wie 'Verbrühte Kugeln' (Nr.1685), 'Plattenmüesli (Nr. 1206), Hirnpudding (Nr.291) oder 'Plaisir des Dames' (Nr. 1585) gehen? Die Herren auf dem blauen Sofa sicher nicht.


05.10.2006 | 11:28 | Papierrascheln

Sie nennen es Arbeit


vlnr: Friebe, Lobo (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Die Riesenmaschineautoren Holm Friebe und Sascha Lobo haben ein Buch geschrieben. Sie nennen es Wir nennen es Arbeit. Das ist ironisch gemeint, es ironisiert das pathetisch und mantraartig von Künstlern, Clowns und Eierdieben umcodierte Wort ARBEIT, das Adolf Hitler schon ein paar Jahre vorher ebenfalls umwertete, also eine Verhöhnung von Kohlegrubenkumpeln und Kettensägensklaven. Die Autoren erklären in dem Buch, wie man Arbeit simulieren und dennoch Erfolg und Geld einfahren kann, wenn man nur gut frisiert ist und im Internet irgendwas behauptet, und dadurch schnell eine einem folgende Schafherde lukrieren kann. Und auch wenn, wie man weiss, inzwischen jeden Tag 5000 neue Weblogs aufgemacht werden und der Blogger von heute nichts anderes ist als das lästige Möbel in den Fuzos der schrecklichen Städte, eine hackysackspielende Pantomime, also das allerallerüberflüssigste nach lauwarmem Wasser, so war diese Chimäre doch irgendwann, im Pleistozän vielleicht, mal offenbar eine Goldgrube. Im Buch von Friebe und Lobo werden all die Verhältnisse generös beleuchtet, die kurzfristige Demokratisierung der Mittel, die die anderen Medien verschlafen haben, und die sie naturgemäss versuchen zu simulieren, am Ende kommt eine Kolumne im Stern heraus, die der Blogger wiederum im Internet versucht zu imitieren.

Dass die Autoren begleitend zu ihrem Buch auch noch ein Weblog eröffnen mussten, kann nur mit dem ranzigen affirmativen Subversionskalkül erklärbar sein, denn nötig hätten sie es nicht, weil, sie sind immer gutfrisiert. Besser zumindest als die 5000 Blogger und deren Sternadepten.


29.09.2006 | 14:56 | Alles wird schlechter | Papierrascheln

Aber die Billyregale hat er gebaut


(Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Es gab eine Zeit, da war der IKEA-Katalog ein Kleinod in der Kunst des Gebrauchstexts. Okay, Kunst ist vielleicht eine etwas steile Ansage, aber man hatte 300 fluffig geschriebe Seiten vor sich, angenehm unterhaltsame Wortspiele, kleine Gags mit den eigenen Produktnamen. Der Job Werbetexter war noch verhältnismässig neu im Volksbildungsverständnis und eigentlich erst mit der genialen Anzeige "schreIBMaschinen" für den nachmaligen Computerhersteller ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Der IKEA-Katalog sagte dem Volk, "Ach sieh, Werbetext muss nicht öde oder schmierig oder beides sein, er kann auch ganz einfach okay oder sogar gut sein".

Inzwischen ist das anders. Mangelndes Geschichtsbewusstsein kann man niemandem vorwerfen. Totaler Quatsch, mangelndes Geschichtsbewusstsein kann man jedem vorwerfen, der es hat. Denjenigen, die beruflich mit Sprache umgehen, muss man es vorwerfen. Der IKEA-Katalog wurde von mindestens fünf Textern geschrieben, er ist durch die Augen von mindestens drei Agenturvorgesetzten dieser Texter gegangen, eine grössere Anzahl von IKEA-Marketingverantwortlichen hat jedes Wort gelesen und sich über die Hälfte beschwert, anschliessend haben mindestens zwei externe Korrektoren ihn durchgelesen, man kann blind jede Wette eingehen, dass kein einziger Kommafehler im gesamten IKEA-Katalog ist. Aber dass mitten im bunten Reigen der Überschriften der bekannte KZ-Spruch "Jedem das Seine" zu finden ist, das ist niemandem aufgefallen. Wir warten auf die Tischdecke "Maidanek" und die Dekortapete "Buchenwald".


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