Riesenmaschine

06.10.2006 | 17:20 | Fakten und Figuren | Zeichen und Wunder

Joseph haut den Limbus


Foto: joeltelling
Der äusserste Kreis der Hölle wird wegrationalisiert. In ein paar Tagen will Papst Benedikt (von lat. bene = gut und der Partizip-Perfekt-Passiv-Form von -dicere = sprechen) XVI die Vorhölle abschaffen. Dieses nette Plätzchen Nahbereichsjenseits wird also nur noch kurze Zeit (~Ewigkeitsanteil) der Aufenthaltsort für Seelen sein, die ohne eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossen sind. Im metaphysischen Alltagsgebrauch heisst das, dass der Warteraum für ungetauft verstorbene Neugeborene ersatzlos gestrichen wird. Als solches war der Limbus zwar nie ein Teil der offiziellen kirchlichen Doktrin, aber für eine Werbeaktion ist dessen Abschaffung immer noch gut zu gebrauchen. Der Vatikan scheint nämlich zu hoffen, dass der Katholizismus damit vor allem in Asien und Afrika (siehe Kindersterblichkeitsrate) positiv auffallen kann.

Na dann, ein Grund mehr für grundlose Ausgelassenheit. Holt euch eine Buddel voll Weihrauch und konkordiert durch die Strassen!

Johannes Grenzfurthner | Dauerhafter Link | Kommentare (3)


02.10.2006 | 12:36 | Anderswo | Zeichen und Wunder

Konsequente Nutzlosigkeit

Ideen haben ist keine grosse Kunst, Ideen hat heute jeder. Was nicht viele schaffen: Eine Idee, sei sie hirnverbrannt, gemeingefährlich, irrelevant oder eventuell sogar interessant, stur und konsequent bis zum Ende umzusetzen, bis Mensch und Idee untrennbar miteinander verschmelzen. Hitler zum Beispiel gehört in die Kategorie, man kann ihm vieles vorwerfen, aber Inkonsequenz gehört eigentlich nicht dazu. Ein neues Rollenmodell in diese Richtung liefert der in Toronto ansässige Maler Ernesto Manera. Vor wenigen Tagen ging sein Atelier und mit ihm sein komplettes Lebenswerk im Rahmen eines Grossbrandes in Flammen auf. Er verlor, so sagt man, Kunst im Wert von einer Million Dollar, und das gerade zwei Monate vor Eröffnung seiner ersten Solo-Ausstellung. Das klingt jetzt noch nicht sehr bewundernswert, eher ein bisschen traurig, aber sicherlich sehr sinnlos.

Bis man aus der wie immer hilfreichen Lokalpresse erfährt, dass die geplante Ausstellung, die jetzt gründlich verbrannte Ausstellung, "An Exercise in Futility" zum Thema hatte. Ob es je Bilder für diese Ausstellung gab, wird nie zu klären sein, vielleicht verbrachte der Maler die letzten Jahre auch damit, weisse Wände anzustarren. Man kann ihm vieles vorwerfen, und seine Versicherung wird das auch tun, aber dass er zum Konzept "Exercise in Futility" nicht alles zu Sagende gesagt hat, gehört nicht dazu.


29.09.2006 | 03:48 | Anderswo | Alles wird besser | Sachen anziehen | Zeichen und Wunder

Der allerletzte Kaiser


Kessar Impreore, Umrumqi

"Vorstandsmitglieder in der Firmenzentrale in Rom"

"Seit den fünfziger Jahren arbeitet Chefdesigner Giorgio für Kessar"

"Gründer 1881: Feilibonuo Kaisa"
Buchstabensalat- und Louisbranding, das Umbranden von Paris und Fashion La Vico sind beileibe nicht alles, was die Chinesen im Weltbrandingskrieg aufzubieten haben. Den bisherigen Höhepunkt bilden ihre Anstrengungen rund um die Schuhmarke "Kessar impreore". Schon der Name signalisiert einen imperialen Anspruch. Kessar – so entnimmt man den Schriftzeichen – soll für Kaiser stehen, und impreore für Imperator, so dass wir den ganzen Firmennamen als "Kaiser Kaiser" dechiffrieren können.

Das klingt nun fast schon wie Hohn und etwas Spott, und soll vielleicht auch so gemeint sein. Eventuell ist es aber auch ein grosser Test? Das legen nämlich die Fotos nahe, die in einer Shopping-Mall im westchinesischen Urumqi die Geschichte der Firma Kessar erzählen. Die freundlich lachenden Herren auf dem zweiten Bild sind angeblich Kessars "Vorstandsmitglieder in der Firmenzentrale in Rom, Italien." Auf Foto Nummer Drei soll man "Qiao Qi Ou" sehen, also Giorgio, ein Mann, der "in den fünfziger Jahren als Kessars Chefdesigner eingestellt wurde". Das vierte Foto zeigt Herrn "Fei Li Bo Nuo Kai Sa" (=Philipp oder Filipino Kaiser), der die Firma 1881 gegründet hat, im selben Jahr übrigens, in dem auch Nino Ceruttis Vater geboren wurde.

Nun wissen wir zufällig, dass der Mann auf diesem Foto nicht Philipp heisst, sondern Sigmund, und zwar Sigmund Freud (vgl. besonders dieses Foto). Der gründete 1881 keinen Schuhladen, sondern promovierte mit dem Thema "Über das Rückenmark niederer Fischarten" zum Doktor der Medizin. Und auch die anderen abgebildeten Herren heissen sicher anders, als man in Urumqi so behauptet. Nur wie? Das ist die Frage, die wir an Sie weitergeben wollen. Drucken Sie diesen Beitrag bitte aus, zeigen Sie ihn jedem, den Sie kennen, hängen Sie ihn an Bäume und Laternenpfähle und helfen Sie uns so, Giorgio und die Vorstandsmitglieder zu identifizieren. Wenn uns das gelingt, dann würden wir den sauberen Modekaisern von China zeigen, dass sie uns nicht für komplett dumm verkaufen können. Wenn aber nicht, können sie es eben doch.

Dieser Beitrag ist ein Update zu: Figarau, Figarau, Figarau

Christian Y. Schmidt | Dauerhafter Link | Kommentare (11)


23.09.2006 | 13:11 | Anderswo | Zeichen und Wunder

Schnapstor


Nach Ansicht des Gemeindepräsidenten kann man über Kunst immer geteilter Meinung sein. Bild: Christoph Rösch, NAIRS
Samnaun ist ein kleines Nest im östlichsten Zipfel der Schweiz, fast schon in Italien, praktisch schon in Österreich. Alleinstellungsmerkmal Samnauns ist eine Eigenschaft, die es lediglich mit internationalen Flughäfen teilen muss: es ist zollfreies Gebiet. Nur über einige Passstrassen zu erreichen, pflegte Samnaun jahrhundertelang engere Handelsbeziehungen zum nahen Tirol als zur Restschweiz. Mit der Zentralisation des Zollwesens (1848) verlor Samnaun seine wichtigsten Handelspartner und Einnahmequellen, darum wurde es aus dem Schweizerischen Zollgebiet ausgenommen und war fortan zollfreies Gebiet. Geplant war, diesen Status wieder aufzuheben, sobald Samnaun mit einer ordentlichen Strasse mit der Schweiz verbunden sei. 1912 war dies soweit, doch Samnaun blieb zollfrei. Bis heute – und so ist das Dorf heute eine Art bewohnter, hässlicher Supermarkt für Touristen, die zum Schnapskauf anreisen.

Roman Signer hingegen ist ein Schweizer Künstler, der eigensinnig, humorvoll und mit einem untrüglichen Gespür für die Poesie von physikalischen Experimenten seit Jahren auf mit Wasser gefüllte Fässer schiesst, Farbe oder Schnee explodieren, Stühle rumfliegen, Sand rieseln, Modellhubschrauber abstürzen oder einfach Dinge in Dinge rollen lässt. Meist spielen Gummistiefel, Fässer, Raketen, Waffen, Kajaks oder Schläuche eine Hauptrolle; Lawinen, Staumauern und Vulkanausbrüche stehen Pate. Signers Arbeiten mögen manchen sinnlos erscheinen, als anstössig oder störend wurden sie selten empfunden.

Dies mag der Grund gewesen sein, dass der Gemeinderat von Samnaun einen bescheidenen Beitrag von 2000 Schweizerfranken versprach, als die Kulturstiftung 'Nairs' anfragte, ob im Rahmen des Projekts transit.engiadina eine skulpturale Arbeit von Signer am Dorfeingang installiert werden könne. Samnaun erwartete allenfalls ein paar blaue Fässer oder rote Kanus, stattdessen bekam man eine Interpretation eines mittelalterlichen Stadttors in Form einer Stahlkonstruktion, auf der 59 Schnapsflaschen angeordnet waren. Unschwer zu erraten, dass die Samnauner damit nicht glücklich wurden. Wie dieses Protokoll – das übrigens eine hübsche kleine Posse um die Zusammensetzung des Gemeinderats (mehr als 50% Jenals, ergänzt von einigen Zeggs) sowie interessante Informationen zu Lawinensprengmasten enthält – beweist, wurde die 'Schnapstor' geheissene Skulptur als 'störend' und 'billige Werbung für Samnaun' empfunden. Einige Zeit später war das Tor einen halben Meter höher und mit einem grossen Werbebanner der Gemeinde versehen, sodass die Werbung zumindest nicht mehr billig und die Schnapsflaschen kaum sichtbar waren. Nairs und Signer intervenierten gerichtlich und Samnaun musste das Schnapstor zähneknirschend in den Originalzustand zurückbauen.

Kürzlich nun löst ein Bagger einer regionalen Baufirma das Samnauner Problem, indem er das Tor rammte. Der Gemeinderat liess verlauten, natürlich sei dies ein bedauerlicher Unfall, der aber korrekt gemeldet worden sei, von Absicht keine Spur aber leider sei die Installation nicht mehr zu retten, überhaupt, die Sicherheit, man habe sicher Verständnis. Gut wenigstens, dass der Gemeinderat die versprochenen 2000 Franken nie bezahlt hat.


21.09.2006 | 11:58 | Berlin | Zeichen und Wunder

Keine Hochzeit im Wedding


(Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
In dem Film "Prinz von Zamunda" beschliesst Eddie Murphy, in den New Yorker Stadtteil Queens zu fahren, um seine Königin zu finden. Im Wedding hätte er sie heiraten können, aber es kam anders, vielleicht, weil Wedding einen Ruf hat als Problembezirk. Abgesehen davon ist Wedding jetzt bezirksrechtlich Mitte, und das bekommt den Statistiken ganz gut, das mittlere Haushaltsnettoeinkommen von Mitte liegt nun bei 1275 Euro. Dass Wedding und Mitte der gleiche Bezirk sind, kommt vom Sozialen her einer Vereinigung von Nord- und Südkorea gleich, und das nicht erst seit dem Brandbrief der Weddinger Theodor-Plievier-Schule, der im Übrigen viel brandiger war als der Rütli-Brief, aber pressetechnisch eben zwei Tage zu spät. Der Wedding ist von jeher ein LowFi-Bezirk, nannte sich selbst Arbeiterbezirk oder der Rote Wedding, ein Lied von Hanns Eisler und Erich Weinert, nach denen heute Strassen und Musikhochschulen benannt sind oder wenigstens jeweils eine, allerdings in anderen Stadtteilen.

Schon immer herrschte ein rauher Ton im Wedding, Arbeiter sein erfordert ja auch eine gewisse Räuhe, gerade, wenn es sich um Arbeiter ohne Arbeit handelt, also um Arbeitsloser. Der Wedding hat nicht erst seit kurzem die höchste Arbeitslosigkeit aller Berliner Bezirke, sondern mindestens seit den im Wedding eben nur Messingenen Zwanzigern. Das liegt nicht nur an der allgemeinen Lage, sondern auch daran, dass das Schicksal hier einen besonderen Menschenschlag hinverschlägt. Der Weddinger ist genauso, wie sich der Rest der Republik den Berliner vorstellt, also die personifizierte Unwirsche, quer durch alle soziodemografischen Daten wie Einkünfte und Herkünfte. Vielleicht sind es Erdstrahlen, vielleicht ist im berühmten Flakturm im Humboldthain eine ähnlich gefährliche Strahlenanlage wie auf dem Flughafen Tempelhof. Oder es ist einfach der Weddinger Geist, der durch Verkäufer, Hausmeister und Schilder wie das nebenstehende von Generation zu Generation weitergetragen wird und, leicht vereinfacht ausgedrückt, den Weddinger zu folgendem Motto treibt: Warum reden, wenn man auch krakeelen kann?


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