Riesenmaschine

14.08.2008 | 01:43 | Berlin | Zeichen und Wunder | Vermutungen über die Welt

Konservative Wände


Foto mit freundlicher Genehmigung von Nomsa Buchholz, von der wir auch die Idee haben.


Graffiti- und Street-Art-Künstler sind die weissen Ritter der steten urbanen Neuerfindung, die Adepten des Temporären. Denn während andere Kunstrichtungen darauf angelegt sind, für Jahrhunderte in Museen zu hängen oder zu stehen, ist in der Street Art schon im Moment des Schaffensprozesses klar, dass die Werke nur eine begrenzte Lebensdauer haben. Nur wenig später werden sie Malern, Plakatklebern, Reinigungsfirmen, Abriss, Witterung oder anderen Sprayern zum Opfer fallen, dann muss wieder was Neues her. Daran hatte auch die vereinzelte Domestizierung durch die Museumskultur, von Basquiat bis Banksy, nichts ändern können. Bisher. Doch jetzt steht eine Wende an: In der Oppelner Strasse in Kreuzberg wurde an eine frisch gestrichene Hauswand ein Foto der Hauswand im alten Zustand aufgehängt, als Erinnerung an die verloren gegangenen, übermalten Tags.

Nostalgie statt Zukunftsglauben, Konservativismus statt Veränderung – es ist klar, wohin das führen wird: Wenn in einigen Jahrzehnten die Sprayer den Gang durch die Institutionen vollzogen haben, wird Street Art unter Denkmalschutz stehen. Es wird Bauvorschriften geben, nach denen Neubauten zu mindestens 60 Prozent besprüht und beklebt sein müssen. Haussanierungen werden von promovierten Kunsthistorikern überwacht, die bis auf den Monat genau die verschiedenen Graffitistile der Jahrtausendwende unterscheiden können und sicherstellen, dass die originalen Farben und Auftragstechniken Verwendung finden. Ganze Industriezweige werden von diesen Massnahmen leben und die Deutsche Post wird es überhaupt nur noch geben, weil sie das Verkaufsmonopol auf Paketaufkleber hält. Gleichzeitig wird sich eine subversiv angehauchte Jugendkultur bilden, deren Vertreter nachts in Zugdepots einbrechen, um mit Hochdruckreinigern das Graffiti von den Zügen zu bomben – immer auf der Flucht vor der Polizei und den privaten Sicherheitsdiensten, die der mächtige Lobbyverein YesFitti auf sie angesetzt hat.

Dieser Beitrag ist ein Update zu: Neuer Trend zur Höflichkeit II


17.07.2008 | 21:56 | Berlin | Essen und Essenzielles | Vermutungen über die Welt

Kreuzberger Delicatessen


(Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)

Das komplexe Phänomen des Kannibalismus im Film verortet sich in einem diffusen Feld zwischen dystopischer Gesellschaftskritik (Soylent Green/1973), Psychothriller (Schweigen der Lämmer et al.), Exploitation-Ästhetik (z.B. Mondo Cannibale/1972, Cannibal Holocaust/1980) und schwarzhumoriger Groteske – wobei im letztgenannten Subsubgenre Jean-Pierre Jeunets Delicatessen (1991) und die letztes Jahr in die Kinos gekommene Verfilmung der eigentlich schon viel älteren Sweeney-Todd-Story als stilprägend gelten können. Natürlich passieren derartige Geschichten – also dass Menschen mitten in Europa hinterrücks ermordet und geschlachtet werden, damit ihr Fleisch zu Speisen verarbeitet und verkauft werden kann – nicht im echten Leben. Blicken wir daher lieber in die Kreuzberger Oranienstrasse, wo beim Kreuzburger eine der wirklich bedeutenden Fragen der Menschheit beantwortet wird: Was ist eigentlich das Gegenteil von Neuland-Fleisch?


15.07.2008 | 02:40 | Berlin

Kehrwoche


So sieht sie aus, die neue Gastfreundschaft der Berliner. (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Seit Kurzem gibt es, wie der Tagesspiegel meldet, nach dem befestigten Rheinländer-Brückenkopf der StäV nun auch einen Verein namens Westwind, in dem sich Nordrhein-Westfalen in Berlin organisieren. Darüber können die Süddeutschen nur lachen, einen entsprechenden Verein für Baden-Württemberger gibt es nämlich schon seit 2000 (Motto: "Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause – und benehmen Sie sich auch so.") Allen voran sprichwörtlich die Schwaben, die auf der Flucht vor der Bundeswehr und angelockt von den Ärzten hier traditionell ihre Zelte aufschlagen und sesshaft werden. Auf eine ähnlich lange Tradition blickt die Reaktanz der Eingeborenen zurück. Seit Ewigkeiten kontert etwa der schaue Fil den sich als Berliner fühlenden Schwaben mit der rhetorischen Frage: "Wie lange muss ein Huhn durch den Wald laufen, bis es ein Fuchs wird?" Nun wird im Territorialkonflikt zwischen Urberlinern und solchen mit schwäbischem Migrationshintergrund anscheinend ein anderer Ton angeschlagen und die Gangart verschärft. Unklar, ob aus allgemeinem Ressentiment oder unschöner Individualerfahrung heraus, wird seit kurzem im Prenzlauer Berg von anonymer Seite mittels Plakataushängen der Schwaben Spiessigkeit, Überwachungswut in der Nachbarschaft (soll damit womöglich pars pro toto der amtierende Innenminister gemeint sein? Aber warum dann Nachbarschaft?) und das allgemein fehlende Verständnis für die Berliner Kultur (Schwaben und andere vermuten hinter dem Begriffspaar seit jeher ein Oxymoron) angeprangert. Die seit Jahrzehnten ungeklärte und bohrende Frage "Was wollt ihr eigentlich hier?" wird darob noch einmal mit aller Nachdrücklichkeit gestellt. Und vermutlich wird es in Zukunft nicht bei drei oder mehr Fragezeichen bleiben. So hat es in Belgien nämlich auch angefangen.


30.06.2008 | 23:19 | Berlin | Alles wird besser

Balkon ohne Auftrag


Abbrüstung jetzt! (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Ist nicht das Unfertige jedem von uns eine Mahnung, dass das Leben eine Reise ist ohne Ziel? Nein, ist es natürlich nicht, dieser Spruch ist einem ausgedachten ökumenischen Kalenderblatt entnommen. Das Unfertige ist vielmehr in der Kultur das, was die Mutation in der Biologie ist. Irgendwann ergibt es sich halt aus irgendeinem Grund, erst denkt man so "Mist", dann wird es ausprobiert und in einem von zehn Fällen kommt heraus, dass es auch so geht, vielleicht sogar besser. In der Biologie sind so zufällig das Auge, bedecktsamende Farnarten und wohl auch der Pimmel entstanden. In der Kultur dagegen hat das Unfertige die Erkenntnis vorgebracht, dass es auch ohne angenähten Kragen geht und sogar ganz ohne Kragen. Dass Heissgetränke auch ohne Untertasse getrunken werden können und dass Autos nicht unbedingt ein Dach brauchen.

Das Unfertige bringt uns also weiter, und zwar dorthin, wo durch Verzicht das Wesentliche deutlich wird. In einer der zahlreichen indischen Mythologien gilt die Besitzlosigkeit, die Loslösung von allen irdischen Gütern als Ideal. Und auch im Westen kennen wir den gesellschaftlichen Grosstrend zur Besitzlosigkeit der Menschen einerseits (wie im aktuellen Armutsbericht eindrucksvoll bestätigt wird) und zur Körperlosigkeit der Dinge andererseits (wie die allgemeine Verschiebung von der Hardware zur Software zeigt, siehe iPhone-Tastatur).

So ist es kein Wunder, dass die Abkehr vom Dinglichen nicht haltmacht vor der grossen, alten Dame der Weltgestaltung, der Architektur, obwohl epochale Zyklen etwa im Netz allenfalls Stunden dauern, während die Architektur wie ein Wal am Strand ruht und sich nur langsam bewegt, wenn nicht gesprengt wird. Stuck, anderthalb Meter lichte Höhe, Küchentüren und Bodenbeläge aus Holz lässt man beim Gebäudebau schon länger weg und nun, wie auf der Fotografie zu erkennen, auch Balkongeländer. Und warum auch nicht? Ist nicht ein Geländer letztlich nur der trügerische Schein eines Schutzes, manchmal sogar regelrecht gefährlich?

Vielleicht. Die Gäste dieses Hostels in Berlin Prenzlauer Berg, das schon mal mit einem Fassadenexperiment in der Fassadenwelt für Aufsehen gesorgt hat, werden es im Selbstversuch erproben können. Vermutlich erweist sich das Geländer als ebenso schadlos weglassbar wie Bordsteine.

Dieser Beitrag ist ein Update zu: Fassadeure


26.06.2008 | 09:51 | Berlin

Früher war alles genauso


Industrialisierung, Weltkrieg, Weltkrieg, Teilung, IBA, De-Industrialisierung, Wiedervereinigung. Der Zitadelle war das alles scheissegal. (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)

Berlin ist bekanntermassen eine Stadt im Dauerwandel. Statt Pop-Up-Stores gibt es hier ganze Pop-Up-Stadtviertel und in illegalen Clubs ist es mittlerweile üblich, am Eröffnungstag schon die Abschiedsparty zu feiern, weil die Bezirksverwaltung das Gelände für eine temporäre Kunsthalle vorgesehen hat, die dann nach wenigen Wochen durch den Bau einer Shopping Mall abgelöst wird, aus deren Investitionsruine später ein Hotel wird (oder ein illegaler Club).

Insofern sind die TimeScopes des Chefstadtmöblierers Wall AG grundsätzlich eine gute Idee, man kann schliesslich nicht überall gleichzeitig sein. Es handelt sich dabei um wie Ferngläser anmutende Stationen, in die man hineinschauen kann und nach Münzeinwurf historische Fotos von den Dingen gezeigt bekommt, auf die das TimeScope gerichtet ist – inklusive eines etwas versponnenen Gegenwart-Modus, bei dem man eine Live-Videoaufnahme von dem sieht, was sowieso gerade vor einem steht.

Die TimeScopes sind mietbar und es würden vermutlich jedem Berliner Leser spontan mehrere Dutzend Stellen einfallen, an denen ein solches Gerät einen nützlichen Dienst verrichten könnte. Theoretisch. Denn praktisch steht die Hälfte der vier bisher öffentlich zugänglichen TimeScopes vor und in der Zitadelle Spandau. Fantastisch! Hier erfährt man nun, dass sich die Fassade der Zitadelle in den letzten hundert Jahren so gut wie gar nicht verändert hat, lediglich die Bäume vor den Toren sind über die Jahre gewachsen und wurden irgendwann abgeholzt, 1930 gab es ausserdem mal kurzzeitig zwei gestreifte Wärterhäuschen. Das ist eine dermassen wirre Umdeutung des Konzepts, dass an dieser Stelle nicht mal der riesenmaschinenübliche Schluss mit Vorschlägen für noch ungeeignetere Orte folgt. Weil uns nämlich keine einfallen.


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