Riesenmaschine

18.08.2006 | 17:29 | Fakten und Figuren | Zeichen und Wunder

Halber Mensch, geh weiter


Zwei Chimären mit dem Kontrabass (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
Multiple Persönlichkeiten sind ja schon länger nicht mehr so irre aufregend. Dr. Jekyll und Mr. Hyde stauben bei den Klassikern vor sich hin, Exorzismen überflüssiger Zweit- und Drittcharaktere lohnen sich schon rein monetär kaum und Dokumentarfilme über das umstrittene Syndrom werden allenfalls noch spät abends im Dritten wiederholt.

Die beiden jüngst identifizierten zusammengewürfelten Persönlichkeiten dagegen – halb Mensch, halb noch ein Mensch – verfügen als echte Chimären über durchaus unterhaltsame Features und hätten, dank der ab Werk eingebauten Irrungen und Wirrungen, ohne weitere Handlungsstränge das Potenzial zum Telenovela-Stoff. So behaupteten an ihnen durchgeführte DNA-Tests hartnäckig, diese Frauen seien nicht die Mütter ihrer Kinder. Zudem verfügen sie über unterschiedliches Erbgut an unterschiedlichen Stellen des Körpers. Und die Verwandtschaft kommt noch buckliger: Bei näherer Betrachtung stellt sich jede der beiden als ihr eigener Zwilling heraus. Fehlt eigentlich nur noch, dass Teile ihres genetischen Set-ups seit sechzig Jahren bis an die Zähne bewaffnet im philippinischen Dschungel ausharren, nicht ahnend, dass zumindest dieser Krieg vorbei ist.


15.08.2006 | 05:05 | Nachtleuchtendes | Fakten und Figuren

Ansichten aus dem Nonneninnen


Im Inneren der Nonnen wohnt ein Kind. Wer hätte das gedacht? (Foto: Drake LeLane)
Wie sieht es im Inneren einer Karmeliternonne aus? Für diejenigen unter uns, denen die Frage schon länger auf den vor Spannung zerkauten Nägeln brannte, hat eine Forschergruppe in Montreal jetzt Abhilfe geschaffen, und den Salat auch gleich bei Neuroscience Letters publiziert. Man hat dort Nonnen in enge, kühle Röhren geschoben, und ihnen dann mit Magnetfeldern den Kopf in Scheiben geschnitten, während sie sich mit Gott eins fühlten, ein Zustand, in den Karmeliterinnen sich offenbar in den schlimmsten Bredouillen mit klösterlicher Leichtigkeit zu versetzen verstehen. Vorhersehbarerweise führt das ganze zu Bildern von Nonnengehirnen mit ein paar farbigen Flecken drauf. Der Vorgang insgesamt gemahnt einerseits an Persinger, der ja bei seinen Experimenten religiöse Ekstasen nicht misst, sondern gleich selber auslöst, andererseits aber auch an die banale Erkenntnis, die einem Redakteur der Zeitschrift Science vor einer Weile unbemerkt durch die Korrekturfahnen wehte: dass nämlich ein Hirnscan beweise, dass eine bestimmte kognitive Fähigkeit im Gehirn verortet sei. So dekorativ sind diese Bilder vom bunten Grauen, dass man sich nicht vorstellen mag, es lasse sich mit ihnen nicht doch mehr beweisen, als dass auch bei Nonnens die Party eben im Kopfinnern steigt.


14.08.2006 | 16:56 | Fakten und Figuren

Paralektronoia


(Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
Den Hamburger Musiker Felix Kubin, der sich selbst als "harte Zelle" bezeichnet und bereits als Dreizehnjähriger Bühnentriumphe einfuhr wie der brave Landmann andernorts die Runkelrüben, treiben neben seiner alltäglichen Beschäftigung mit Klangerzeugung auch immer wieder Fragen um wie: "Können wir mit Zahnfüllungen Stimmen empfangen? Ist die Sinusschwingung ein akustisches Gespenst des menschlichen Unterbewusstseins? Handeln Menschen nach Frequenzen?" Für den WDR hat er Erfinder und Musiker versammelt, um der "Paralektronoia" auf die Spur zu kommen. Mit systematischer Feldforschung und radiophonen Experimenten erkunden sie die Auswirkungen unsichtbarer Schwingungen auf die Psyche. "Paralektronoia" hebt die Grenzen zwischen Sender und Empfänger auf. Mit Alvin Lucier, Carl Michael von Hausswolff, Asmus Tietchens, Lionel Marchetti, Matthias Breitenbach, Traugott Buhre, Gloria Brillowska, Charlotte Crome, Ditterich von Euler-Donnersperg u.a. Sendetermine: 15. August, Dienstag, 23 Uhr auf WDR Eins Live und 2. Oktober, Montag 23:05 auf WDR 3. Hören Sie auf Ihre inneren Stimmen. Ihr Radio hört mit. Das Programm wird gestreamt, kann also über Internet, auf Sirius und über die Plombe im Backenzahn empfangen werden.

Tex Rubinowitz | Dauerhafter Link


13.08.2006 | 00:58 | Alles wird besser | Fakten und Figuren

Ordure pour tout le monde


Bild typähnlich (und gemeinfrei)
Es ist wahrscheinlich nicht sehr gewagt zu behaupten, dass die Menschheit Bloggern in 10-15 Jahren mit etwa den gleichen gemischten Gefühlen gegenüberstehen wird wie heute Jongleuren im Park. Dabei werden unter der mühselig zusammengebloggten Lawine des jüngsten Erlebnisschrotts leider auch einige Perlen begraben; nur so ist zu erklären, dass eines der besten deutschsprachigen Blogs, vielleicht sogar das beste, nämlich das des leicht neurasthenischen, stets kränkelnden, seine Misserfolge beklagenden, mit der Welt, den Frauen, dem Schreiben, dem Marathonlauf und seinen IKEA-Vorhängen beharrlich hadernden Jochen Schmidt so wenig Beachtung fand. Kann allerdings auch sein, dass es daran lag, dass Schmidt Schmidt heisst und nur alle paar Monate einen neuen Eintrag von mehreren hunderttausend Zeichen Länge freischaltete; und das Unternehmen im Sommer 2005 ganz einstellte.

Schmidts neuer Versuch in Sachen Misserfolg ist das optisch gewohnt anspruchslose Schmidt liest Proust, sozusagen eine Quadratur der Krisis. Mehr oder weniger live sehen wir Schmidt dabei zu, wie er täglich 20 Seiten Proust liest und hofft, nach etwa 180 Tagen fertig damit zu sein.

Schmidt beginnt etwas mäkelig ("Und selbst, wenn es nicht reicht, Proust zu lesen, um Becketts Proust-Essay zu verstehen, wird man zumindest wissen, was Proust geschrieben hat. Zu wissen, was Proust geschrieben hat, ist sicher das Minimalziel einer Proust-Lektüre"), fragt sich, ob am Ende auch der Mörder verraten wird, quält sich mit Zwangsvorstellungen ("Das einzige, was stört, ist die ständig wiederkehrende Zwangsvorstellung, vom Balkon zu springen, mal sieht man sich sitzend, wie im Schwimmbad von der Kante plumpsen, mal wie beim Hochsprung mit einer eleganten Rolle über die Balkonbrüstung hechten") und wird mit der Zeit, wie nicht anders zu erwarten, immer proustähnlicher. Bis seine Lider endgültig auf Halbmast sinken und das Blog von innen mit Kork ausgeschlagen wird, ist es jedoch noch ein weiter Weg (ca. 3000 Seiten), auf dem wir Schmidt von nun an begleiten wollen.


12.08.2006 | 05:19 | Nachtleuchtendes | Fakten und Figuren

Klarheit ist nicht wünschenswert


Sieht eigentlich ganz normal aus: Planemo
Nächste Woche, auf dem grossen Symposium der Internationalen Astronomischen Vereinigung (IAU), soll endlich per Definition geklärt werden, was man in Zukunft Planet nennen darf und was nicht. Was auch immer dabei herauskommt – man wünscht sich natürlich eine komplett lebensferne und komplizierte Formulierung, irgendwas mit Deuteriumbrennen, e<0.25 und Spektraltypen – die Tatsache, dass man darüber überhaupt diskutieren muss, belegt, wie erfolgreich die letzte Dekade darin war, die rassistische Trennung zwischen Sternen und Planeten aufzuheben. Vor zehn Jahren noch war alles klar, die kleinen Planeten umkreisen den grossen Stern, und sie entstehen gefälligst, wenn der Stern schon fertig ist, basta. Als die Astronomen Jayawardhana und Ivanov Anfang Juni 2006 im kanadischen Calgary vor die Presse traten, und ein paar Dinger, zwar kaum grösser als Jupiter, aber ziemlich sicher genauso entstanden wie die Sonne, kurzerhand als Planemos bezeichneten, war darum das Geschrei gross. Ein Planemo – ein "planetary mass object", das jedoch nicht einfach nur einen Stern umkreist, sondern selbständig denken und handeln oder zumindest durchs All fliegen kann. Gleichzeitig präsentierte Kollege Mohanty einen Braunen Zwerg, auch so ein Untermensch des Weltalls, der von einem Planemo umkreist wird. Wenige Wochen später dann, in einem an planemolosen Nachrichten ansonsten eher armen Sommer, zeigte die Welt da draussen uns in aller Konsequenz ein Planemo, das von einem anderen Planemo umkreist wird. Leider wird es bis zur IAU-Tagung nicht mehr klappen mit der nächsten Stufe, denn worauf wir jetzt alle warten, ist ein Planemo, das von einem Planeten umkreist wird, oder halt auch umgekehrt. Früher war irgendwie alles viel zu einfach, die Erde eine Scheibe, die Bilder vom Himmel in Öl und Mathe ging noch ohne Taschenrechner.


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