Riesenmaschine

22.04.2008 | 14:22 | Effekte und Syndrome

Hysterie und Übertreibung


(Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Hysterie ist Grundform und Voraussetzung jedes Lebens, hat sicher irgendein Denker einmal behauptet. Und damit natürlich vollkommen Recht gehabt. Nicht bloss etymologisch, sondern auch sonst und überhaupt ganz im Allgemeinen. Schliesslich sind all die tollen Sachen, die wir so tun, um unsere Lebenszeit zu bewältigen (Fussball, sich verlieben, Schnaps trinken, postmoderne Philosophie), im Prinzip hysterischer Unsinn, bei dem Menschen ohne Notwendigkeit kreischend im Kreis laufen. Ausserdem trägt eine Kollektion erotischer Männerunterwäsche den Namen Hysterie.

Die Hysterie ist aus unserem Alltag also gar nicht wegzudenken und über jede Kritik erhaben. Erst recht die Hysterie in den Medien! Medien würden ohne schliesslich aussehen wie das georgische Staatsfernsehen an einem Montagnachmittag des Jahres 1982. Aus verständlichen Gründen richtet sich dieser Aufkleber daher nicht gegen die Medienhysterie an sich oder gar gegen unübertriebene Medienhysterie, sondern bloss gegen übertriebene. Eine Wortkombination, von der nur ein Hysteriker wie Bastian Sick sagen würde, sie sei eine überflüssige Dopplung.


03.04.2008 | 00:22 | Effekte und Syndrome

100 Megahertz Inszenierung


Ein DB-Fernverkehr-Fahrkartenautomat während des Zusammenbruchs der Inszenierung. Man kann selbst den Fotografen erkennen. (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
"Der ganze Apparat der Selbstinszenierung ist natürlich umständlich; er bricht manchmal zusammen und enthüllt dann seine einzelnen Bestandteile ..." Mit diesen Worten zitiert Benjamin von Stuckrad-Barre den Soziologen Erving Goffman, am Anfang seines Fotoromans "Deutsches Theater". Ein Zitat, das einem des öfteren einfallen sollte, denn es beschreibt eine Erfahrung, die einen freudigen Ausdruck in müde Gesichter zaubert. Es handelt sich bei diesem Zusammenbruch des Inszenierungsapparates vermutlich um eine derart existenzielle Erfahrung, dass selbst noch ihr Widerschein im Kleinen und Kleinsten in hochemotionale Erregungszustände versetzen kann.

Fällt zum Beispiel eines der Systeme hinter den vielen, vielen Bildschirmen aus, die uns tagtäglich umgeben, lässt sich erkennen, dass auch kein noch so grosser Weltkonzern über andere Betriebssysteme verfügt als wir, im Innern also aus dem gleichen Holz geschnitzt ist. Lustig wandert dann statt des Unternehmenslogos die Windows-Fehlermeldung über die aufgestellten Flatscreens. Während manche an diesen Ausfallerscheinungen interessenlos vorübergehen (weil sie ja auch wenig verraten, was wir nicht eh gewusst hätten), bleibt der Sensible andachtsvoll davor stehen und sagt: "Schau mal! Auch nur Windows hier." Manchmal enthüllt der Zusammenbruch aber auch mehr, zum Beispiel wo eigentlich all die Rechner ein neues Zuhause gefunden haben, die wir spätestens zum Jahrtausendwechsel auf den Müll geworfen hatten.


30.03.2008 | 14:35 | Vermutungen über die Welt

Nichts als Schaum auf dem Weg


Have one's cake and eat it too? Es geht so einfach. (Foto: sachac) (Lizenz)
"Man kann kein Herz brechen und es haben", sang einst Herman Brood. "Wir können scheinbar den Kuchen haben und ihn gleichzeitig aufessen", sagt hingegen der amerikanische Philosoph John R. Searle, wenn er im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung von vor einer Woche die Attraktivität des Kompatibilismus erklären will, dessen Gegner er ist. Ausdrücklich gelobt werden soll hiermit der zuständige FAS-Redakteur, der die englische Redewendung "to have one's cake and eat it" wörtlich übersetzt hat. Zum einen weil wir uns nicht vorstellen möchten, wie der 75-jährige Searle "auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzt", was noch die beste deutsche Umschreibung wäre, zum anderen, weil sich in dieser kurzen englischen Redewendung die gesamte analytische Philosophie zusammenfassen lässt, zumindest im Prinzip.

Denn was wir beim philosophischen Argumentieren tun, schreibt David Lewis (und der muss es ja wissen), ist, dass wir den Preis berechnen, den es kostet, eine Position aufrechtzuerhalten. Philosophen sind demnach also nicht mehr als analoge Registrierkassen. Ihre beste Position ist die, die nichts kostet, was dem wirklichen Leben diametral gegenübersteht, wo ja bekanntlich das, was nichts kostet, auch nichts ist. Den Kuchen aufessen, aber nicht den hohen Preis dafür zahlen müssen, dass man ihn danach nicht mehr besitzt, diese sympathisch-bescheiden daherkommende Redewendung fasst das Ziel jeder noch so weitreichenden Argumentation bestens zusammen. Vollkommen nachvollziehbar erklärt Searle den Kompatibilismus auf diese Weise: Kuchen essen und Kuchen haben sind genauso miteinander kompatibel wie Determinismus und Freiheit, nehmen sich an die Hände und vertragen sich bestens. Aber warum, bleibt als Frage übrig, ist der Mann dann gegen den Kompatibilismus? Weil der auch nichts daran ändern würde, dass, falls der Determinismus wahr wäre, "unsere Entscheidungen nur Epiphänomene waren und nichts als Schaum auf dem Weg, auf dem eine Maschine die tatsächlichen Entscheidungen unabhängig von all dem getroffen hat". Wie die Maschine heisst, wie viel sie kostet, wo man sie kaufen kann und ob sie auch unter Linux läuft, lässt Searle leider offen.


22.03.2008 | 22:48 | Anderswo | Alles wird besser | Sachen kaufen | Essen und Essenzielles

Zukunft waagen


Das UC-Smartvision bei einer seiner Standardaufgaben (Erkennen und Wiegen einer Hochseeyacht). (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Während uns die Deowerbung düstere Zukunftsvisionen präsentiert, in denen hypermoderne Überwachungsdroiden unseren Achselschweiss kontrollieren, hat die wahre, wunderbare Welt von morgen im Real-Markt um die Ecke bereits begonnen. Ausgerechnet die immer leicht angegammelt wirkenden Grossfilialen des Metro-Konzerns sind ein Sammelplatz zukunftsweisender Technologien: Während anderswo beispielsweise Selbstbedienungswaagen aus dem Landschaftsbild der Obstabteilungen vollkommen verschwunden sind, weil kein Filialleiter seinen eigenen Kunden mehr über den Weg traut, setzt Real schon seit 2006 auf eine Mischung aus Eigenverantwortung und radikaler technischer Überwachung. Dort muss sich niemand mehr Obstnummern merken oder Gemüsesorten anhand von schlecht gezeichneten Bildchen zuordnen. Bei einer Firma mit dem wohlklingenden Namen Mettler Toledo, natürlich ansässig in der Schweiz, dem Übermorgenland der Wiegetechnik, hat man sich nämlich gedacht: "Was bei Terroristen gut und richtig ist, kann bei Obst doch auch nicht verkehrt sein!" Man entwickelte das hochinnovative Wiegesystem UC-Smartvision (pdf): Eine in die Waage integrierte Digitalkamera überprüft mit Hilfe einer Bilderkennungssoftware von IBM Form, Farbe, Oberflächenstruktur und Grösse der Frucht und druckt automatisch das richtige Etikett aus.

Angesichts der grossartigen marktstrategischen Vorteile, die man sich als Verkaufsargumente ausgedacht hat ("Innovative Einkaufsumgebung für den Kunden", "Verluste durch Falschbuchungen werden zuverlässig verhindert"), ist es kein Wunder, dass immer mehr Real-Obstabteilungen derart aufgerüstet werden. Wurde das System allerdings gerade erst neu installiert (wie z.B. im Real Köln-Sülz) und noch nicht korrekt "eingelernt", wie es im Obstwaagensoftware-Fachjargon heisst, liegt die Trefferquote recht niedrig: Wenn man einen Apfel auf die UC-Smartvision legt, erscheinen die Vorschläge "Fenchel", "Birnen", "Weisskohl" und "Porree", bloss eben kein "Apfel". Aber was heisst das schon? Osama bin Laden läuft ja auch noch frei herum und trotzdem gibt es biometrische Reisepässe. Sobald die UC-Smartvision sich überall durchgesetzt hat und weiss, wie man Apfel und Porree auseinanderhält, können sich Mettler Toledo und Real dann gleich an das letzte technische Relikt aus grauer-grauenhafter Obstabteilungsvorzeit machen. Dringend nötig wäre ein intelligentes System zum Abrollen und Abreissen von Plastiktüten, bei dem nicht jeder Versuch, an eine Tüte zu kommen, damit endet, dass man den Ständer umreisst. Irgendeine IBM-Software kann man dann ja auch noch einbauen.


25.02.2008 | 01:58 | Anderswo | Zeichen und Wunder

Geburtsfehler Umrissflagge


(Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Nation Building ist eine schwierige Aufgabe und gewiss kein Zuckerschlecken. Alles muss man sich neu ausdenken, Verfassung, Regierungsform, Polizeiuniformen, und nachher schlagen sich die Leute doch nur wieder die Köpfe ein. Im Falle des Kosovo hätte die ganze Sache schon fast als gescheitert betrachtet werden müssen, als das Aussehen der neuen kosovarischen Staatsflagge feststand. Nicht nur dass das zugehörige vexillologische Symbol laut Wikipedia immer noch unklar ist und so Chaos und Durcheinander Tür und Tor geöffnet werden – die Umrisse des Landes aus dem Atlas ausschneiden und ein paar Sterne drüberkleben, weil man gerne in die EU möchte, so geht's natürlich sowieso nicht.

Umrisse sind schliesslich die denkbar langweiligste Art, eine Landesflagge zu gestalten: konkret, einfältig, für Kindergartenkinder schwer nachzumalen und als lustiges Ausnahmeexperiment auch schon lange an die frech im Mittelmeer herumliegende Inselrepublik Zypern vergeben, also eine klare Copyrightverletzung. Umrisse sind höchstens auf der Flagge der Vereinten Nationen angebracht, denn die Grenzen der Welt sind nicht so flüchtig wie die eines Landes – und vom Wegschmelzen bedrohte Landmassen wie die Antarktis wurden bei der Zeichnung einfach weggelassen.

Vorbild für den Kosovo hätte in dieser Frage, wie in so vielen anderen, eher Nepal sein müssen, das eine Flagge mit lustiger Doppelwimpelform und einem Hut (verkleidet als Halbmond und Stern) spazieren führt. Oder wenigstens Libyen, wo man viel Platz für eigene Ideen gelassen hat. Selbst die Vereinigten Staaten, traditionelle Verbündete der Kosovaren, haben es doch besser hingekriegt: Die Stars and Stripes können immerhin ein ausgefallenes Seitenverhältnis von 10 zu 19 und prinzipielle Upgradefähigkeit aufweisen. So macht man es, neuer Staat in unserer alten Runde! Aber du bist ja noch eine junge Nation, Kosovo, gerade erst in der Pubertät, da ist es durchaus erlaubt und geboten, Sachen auszuprobieren.


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