Wie oft hat man nicht schon behauptet, die Zukunft sei da. Zum Beispiel 1620, 1875, 1911, 1975 und 1992. Und den absurden Claim von 2005 natürlich. Aber kann es wirklich eine Zukunft geben, in der man sich seine Schnürsenkel selbst zubinden muss? Eine Frage, die Blake Bevin aus dem nebelverhangenen San Francisco in jahrelangen Bemühungen erhängt und gevierteilt hat, und zwar mit den Power Laces 2.0, den ersten Schuhen mit selbstzubindenden Schnürsenkeln, auf der gesamten Welt. Endlich. Wir sind keine Schnürsenkelzubinder mehr. Jetzt werden uns die Aliens nicht mehr auslachen.
(Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.) (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)Man muss es so sagen: die gelungensten Exponate von Adrienne Göhlers gestern eröffneter und insgesamt sehenswerter Ausstellung Zur Nachahmung empfohlen in den Weddinger Uferhallen sind eindeutig und mit grossem Abstand die aus einem Schrottauto destillierten Fahrräder von Folke Köbberling & Martin Kaltwasser. Nicht, dass man sich nicht über die von Superflex durchgeführte und dokumentierte Flutung einer McDonald's-Filiale amüsierte, mit Gewinn über Adib Frickes Phrasenfragmente meditieren könnte oder eine spontane Symbiose mit Antal Lakners Pflanzenhaut eingehen möchte – aber mit diesen Dingern will man einfach sofort durch ein Schwellenland oder einen Problembezirk seiner Wahl cruisen und dabei bescheuerte Hüte tragen. In Kleinserie gehen, bitte!
Brille auf und los. (Foto: jimf0390 / Lizenz)Mit einer Sonderbeilage und einer beigelegten 3D-Brille beglückte die Berliner Zeitung heute ihre Leser. Auf dem Titel wurde das Ganze bedeutsam angekündigt: "Beamen wie auf dem Raumschiff Enterprise – das klappt noch nicht. Aber Bilder in einer neuen Dimension zu erleben, das schon. 3-D heisst das Zauberwort der multimedialen Zeit. Ihre Berliner Zeitung führt sie in einer Beilage auf 24 Seiten durch diese faszinierende Welt. Brille auf und los."
Nun konnte man die Brille nicht direkt "auf" setzen, weil sie keine Bügel hatte, aber macht ja nichts: Wir begrüssen natürlich trotzdem, dass jetzt, 147 Jahre nach der Entwicklung des Anaglyphenverfahrens, auch die Printzeitungswelt in den 50er Jahren im multimedialen Zeitalter angekommen ist (auch wenn wir bisher eher "Cyberspace", "Augmented Reality", "Hypertextualität", "Smartphone-Technologie" oder vielleicht noch "Diaporama", "Geruchskino" oder "Force Feedback" für dessen "Zauberworte" hielten). Toll auch, dass nebenbei noch eine neue Dimension entdeckt wurde – das kommt nicht so oft vor – und tatsächlich die gesamte Beilage in 3D gedruckt wurde, sogar die 12,5 – viel mehr als sonst! – Anzeigenseiten. Und in Farbe.
An dieser Stelle sei noch auf die bevorstehenden 4D-Wochen der Riesenmaschine hingewiesen. Eine von unseren professionellen Mitarbeitern sorgfältig redaktionell betreute Artikelserie beschäftigt sich umfassend mit 4D-Journalismus und unsere Anzeigenabteilung hält interessante Specials für den Aktionszeitraum bereit. Nutzen Sie jetzt den Frühbucher-Bonus!
Li Chen: He – Cranes – KranicheWahrscheinlich wird man späteren Generationen nicht mehr genau erklären können, weshalb im ersten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts die Menschen auf sämtlichen Kontinenten dieses Planeten plötzlich mit Plastikschuhen herumliefen, die einerseits so aussahen, als würden sie pausenlos schreien, wenn sie nur einen Mund hätten, die andererseits aber auch einen penetranten Eigengeruch verbreiteten, und die zudem im Verhältnis zu ihren lächerlich geringen Herstellungskosten sehr teuer waren. Man wird es vielleicht darauf schieben, dass dieses erste Jahrzehnt ja als das "hysterische" in die Geschichte einging. Es begann damit, dass alle fürchteten, die Apokalypse bräche an, nur weil sich ein Datum änderte. Später glaubte fast jedermann, ein Präsident würde eine andere Politik machen, nur weil seine Haut leicht anders gefärbt war als die seines Vorgängers. Und gegen Ende der Dekade schäumten Menschen wochenlang vor Wut, weil andere Menschen in Fussballstadien, die zehntausend Kilometer entfernt waren, in Plastiktröten bliesen.
Ganz genau aber wird man sagen können, wann der hysterische Schuh zu Kunstgeschichte wurde. Das war auf einer Sammelausstellung der Neun-Drachen-Berg-Galerie, die im Juli 2010 im Pekinger National Art Museum of China stattfand. Gemalt hat das richtungsweisende Bild ebenfalls 2010 der Nachwuchskünstler Li Chen, der es "Kraniche" nannte. Später sollte dieses Gemälde als Zeichen dafür gedeutet werden, dass das hysterische Jahrzehnt zu Ende ging.
Wasser, Seife, Fön, Spritze; in Zürich wird nichts vergessen. Bild: Ph. Hübner In Zürich haben auch Drogenkonsumenten ein Recht auf gutes Design und hübsche Piktogramme. (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)Wir erinnern uns: Bis ca. 2007 war die Zürcher Josefswiese ein ganz normaler, kleiner Park in Zürichs Kreis 5. Familien, Szenis und ein paar Randständige verbrachten dort ihre Abende im Schatten der Kehrrichtsverbrennungsanlage und des historischen Bahnviadukts. Doch irgendwann 2008 muss Rolf Vieli, dem Leiter des Aufwertungsprojekts Langstrasse Plus – einer Art städtischen Büros für Gentrifizierung – zu Ohren gekommen sein, dass auf der Josefswiese hin und wieder Drogen konsumiert werden und dass der Kiosk wieder einmal neu gestrichen werden müsste.
Es wurde bei Fachleuten für Sozialforschung und Sozialanalyse ein Gutachten in Auftrag gegeben, das auf gut 50 Seiten das Verhalten der Städter nach Geschlecht (40% Weiblich, 49% Männlich, 11% unbestimmt, siehe S.4), Aufenthaltsbereich, Aktivität, Bewegungsabläufe, Art der Bewegung, Konsum, Image, Konflikten und Hunden in Abhängigkeit der Sonnenscheindauer und des Temperaturverlaufs analysierte. Neben der Erkenntnis, dass nachts weniger Kinder anzutreffen und "Telefonkabinen, Abfallkörbe, Lichtkörper und Sitzgelegenheiten" nicht nur "gut platziert", sondern auch "einheitlich gestaltet" sind (S.52 f), wurde festgestellt, dass eigentlich alles ganz gut, sicher und sauber ist.
Das Problem wurde nun auf gewohnt zürcherische Art angegangen: mit viel Geld und gründlich. Die ganze Anlage wurde komplett saniert, der denkmalgeschützte Kiosk perfekt instand gestellt, die Eis-Auswahl auf die üblichen LOHAS-Sorten (mit Bio-Agavendicksaft gesüsst, in Zürich unter fairen Bedingungen hergestellt, von Fahrradkurieren ausgeliefert) umgestellt. Dass nicht nur der Umbau, sondern danach auch das Bier gerne ein bisschen mehr kosten darf, daran hat man sich in Zürich mittlerweile gewöhnt.
Nur dort, wo vorher ein paar gewöhnliche Toiletten waren, finden sich jetzt diese pflegeleichten Chromstahlboxen, die es mittlerweile auch auf jeder Schweizer Autobahnräststätte gibt – eine All-in-One-Lösung, die für alle Anwendungen mit einem einzigen grossen Becken auskommt, was wir an dieser Stelle nicht näher erklären wollen. Hier kollidierten wohl die Anliegen der WC-Behörde ("Züri-WC" – sauber und sicher) mit denen der Aufwertungsstelle.
Doch natürlich wäre Zürich nicht Zürich, wenn man nicht einen Kompromiss gefunden und dieses Standardmodell noch ordentlich aufgebohrt hätte: Anstelle der Chromstahlwände finden sich hübsche, rückwärtig grau-blau gespritzte Glaswände, die Decke ist aus hinterleuchtetem Milchglas gefertigt. Und falls sich doch irgendwann noch ein Randständiger in die nunmehr schicke "Josi" verirren sollte, wurde mit dem separaten Einwurf für gebrauchte Spritzen auch seinem Bedürfnis nach einer ordentlichen Mülltrennung Rechnung getragen.