Riesenmaschine

08.04.2010 | 23:07 | Anderswo | Supertiere | Effekte und Syndrome

Sushiwinde


Japanische Därme stellt man sich anders vor. (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Viel wurde schon geforscht über die Unterschiede zwischen den Nationen. Wo die eine Nation aufhört und die nächste beginnt, oder wer in ihnen leben dürfe, waren in vergangenen Jahrhunderten wichtige Themen zahlreicher internationaler Kongresse. Auch Humorneigung der Bewohner, örtliche Toxoplasmose-Durchseuchung, sowie durchschnittliche Längen sämtlicher messbarer Körperteile wurden längst sorgfältig protokolliert. Vor diesem Hintergrund ist erstaunlich, dass erst zu dieser späten Stunde Licht auf den grossen weissen Fleck der internationalen Differenzenforschung fällt, oder vielmehr auf den grossen braunen Fleck, auf den Dünndarm der Völker.

In ihm leben bekanntlich Bakterien in solcherner Anzahl, dass das Gerücht die Runde macht, es seien mehr Bakterien als Körperzellen im Menschen drin, bislang ein verstörender Gedanke, wenn man gerne verstört ist, aber wie die robusteren Naturen wissen, sind diese Bakterien unsere Freunde. Wir füttern sie mit probiotischem Joghurt und sie erzeugen Darmwind – Symbiose nennt's die Biologie. Ein praktisches Nebenprodukt der Darmwindproduktion ist die Verdauung von für den Menschen sonst unverdaulichen Substanzen, von Eternit vielleicht, oder Lakritz oder tausendjährigen Eiern.

Oder zum Beispiel von Sushi. Japanische Dünndärme, das haben Forscher jetzt herausgefunden, enthalten Bakterien mit einem speziellen Gen, das ihnen die Verdauung von Algen erleichtert. Nordamerikanische Dünndarmbewohner haben dieses Gen nicht. Die japanischen Dünndarmbewohner werden sich das Gen wohl aus Bakterien im Essen geholt haben, folgern die Autoren, und dass vermutlich all die darmwindverursachenden Bakteriengene da her kommen. Esst also mehr Bakterien! Es ist gut für die Darmwinde.


08.10.2009 | 11:11 | Nachtleuchtendes | Effekte und Syndrome

Alles in H0

Es ist äusserst selten, dass auf dem Feld der Kultur jemandem eine wirklich genresprengende Basisinnovation gelingt – wie Brechts "V-Effekt" oder Michael Jacksons "Moonwalk". Dass auf dem jahrhundertelang ausgeforschten Feld der Fotografie noch einmal eine neue – noch dazu analoge – Technik unsere Wahrnehmung puzzelt und unsere Synapsen knirschend neu verdrahtet, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit.

Kein Wunder von daher, dass der Finne Miklos Gaal mit seiner verblüffend simplen Methode, Szenerien wie Modellbaulandschaften aussehen zu lassen, binnen kurzem zum internationalen Star der Fotokunst aufgestiegen ist. (Nicht zu verwecheln mit dem Street-Artist Slinkachu.) Schon vor über zwei Jahren wiesen wir darauf hin, dass die "Tilt-Shift" genannte Methode auch im Amateursegment starken Zuspruch erfährt, spätestens, seit sie alternativ zur teuren Hardware auch mittels eines simplen Photoshop-Filters zu haben ist. Entsprechend durchwachsen sind allerdings auch oft die Resultate.

Nun ist der Effekt endgültig im Mainstream, genauer gesagt: bei der Deutschen Telekom angekommen, die ihn für ihre Kampagne "Millionen fangen an" in Spots und Anzeigenmotiven benutzt – um nicht zu sagen: ausschlachtet. Bis wir uns endgültig an belebten H0-Landschaften, Mini-Fussballstadien und Liliput-Strassenszenen sattgesehen haben, schnell noch ein paar andere Tilt-Shift-Videos.

Dieser Beitrag ist ein Update zu: Sex in H0


24.09.2009 | 11:11 | Vermutungen über die Welt | Effekte und Syndrome

Freiheit aushalten


Das Regime der Freiheit zu Gast an der Staatsoper in Berlin (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Für eine erweiterte Interpretation des Regierens bzw. der Regierungskunst, die auf den Mikrostrukturen der Macht aufbaut, hat Michel Foucault in seinen Vorlesungen Ende der 1970er am Collège de France den Begriff Gouvernmentalität geprägt. Gemeint sind damit weniger physische und institutionelle Machtmittel, sondern die psychische Kondition – buchstäblich: die Mentalität –, die das Regieren zur Angelegenheit der Regierten macht. Wie das allgemeine Einverstandensein so ist auch die Forderung nach Selbstregierung in Eigenregie heute triviale Realität einer gleichermassen deregulierten und permissiven Gesellschaft. Das Paradoxon des antiautoritären Kinderladens ("Tante, müssen wir heute wieder machen, was wir wollen?") ist uns so sehr zur zweiten Natur geworden, dass es uns selten bewusst wird. Dabei bezieht sich der Zwang zur Freiheit keineswegs nur auf das Erwerbssubjekt, sondern zuvorderst natürlich auf den als mündig und autonom vorgestellten Konsumenten. Dass der Kunde König sei, ist eine Binse. Dass der vermeintliche Souverän aber selbst keineswegs souverän ist, sondern seinerseits in multiple Zwänge verstrickt, die foucaultsche Pointe bei der Angelegenheit. Uns auf offener Strasse in kondensierter Form und unsubtilen Lettern die Zweischneidigkeit und Abgründigkeit des Imperativs zum Selbstregime im entfalteten Konsumkapitalismus vor Augen zu führen – das hinwiederum ist der kollaterale Verdienst einer neuen Bionade-Aussenwerbung, die an sich einfach nur auf die kommende Wahlen eincashen wollte.


27.02.2009 | 09:17 | Sachen kaufen | Effekte und Syndrome

Prachtscharten


Bei Extra gibt's lila Dinger (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Ein Vorbehalt gegen Freuds Traumdeutung ist, dass jeder Gegenstand, der nicht für eine Vagina steht, ein Phallus ist, oder eben ein Nazivergleich. Arno Schmidt hat das anhand von Karl May demonstriert, den Mann aus der "sexischen" Schweiz, den es zu den "Indi-anern" zog, und der immer einen Mitreisenden hatte, dessen "Po-sze'n" ihn bei Regenfall mit "regem Phall" bei Laune hielten. Mit 12 hat jeder schon einmal eine Phase erlebt, in der die Sprache zu entgleiten drohte und jedes Wort versaute Hintergedanken provozierte, am meisten das scheinbar neutrale "Ding", das man nicht mehr ungestraft aussprechen konnte. Die Surrealisten nannten diesen Geisteszustand "kritische Paranoia", kontrollierten Einsatz von Bedeutungswahn, und nutzten ihn für ihre Arbeit. Wer darunter leidet, kommt bei Extra nicht ohne rot zu werden an den bis zu 70 cm grossen Prachtscharten vorbei, die es sogar inklusive Stecketikett gibt, als hätte man dieses Argument bei so einem verlockenden Angebot noch gebraucht.


02.09.2008 | 16:11 | Nachtleuchtendes | Papierrascheln | Effekte und Syndrome

Und man sieht nur die im Dunkeln werben


Im Licht sieht man sie dagegen fast nicht. (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Verständlicherweise richten sich die Begehrlichkeiten von Werbetreibenden, die das mediale Rauschen durchdringen wollen, verstärkt auf solche Sonderwerbeformen und -flächen, die bislang für marktschreierische Botschaften nicht zur Verfügung standen und ergo allein wegen des Neuigkeitswerts schon Aufmerksamkeit erzielen. Dazu zählt auch das Magazin-Cover, quasi die gute Stube eines jeden Heftes. Blattmacher sehen sich hier einem Trade-off, genauer gesagt: einem Zeitinkonsistenz-Problem gegenüber. Kurzfristig können sie sich den Tabubruch teuer bezahlen lassen und ihre Einnahmensituation maximieren. Mittelfristig brechen die Kioskverkäufe ein, weil niemand ein Heft mit Werbung auf dem Cover kaufen will, und ihre Aufmerksamkeitswährung rauscht in den Keller. Eine elegante Lösung für dieses Problem hat man beim deutschen Vice gefunden. Das Cover der aktuellen Ausgabe zieren zwei unverdächtige – wenngleich etwas uninspiriert wirkende – Eisbecher. Erst im Dunkeln erkennt man die Werbung für das neue Sony-Vaio-Notebook, die mit nachtleuchtender Fluoreszenzfarbe darüber gedruckt ist, dafür aber die Eisbecher nicht mehr. Die beiden semantischen Sphären überlagern sich, ohne sich dabei ins Gehege zu kommen! Dahinter schlummert auf den ersten Blick eine weiter reichende Kompromissformel, um nicht zu sagen: die Chance, des ästhetischen Problems der Werbung generell Herr zu werden.

Bei Tag könnte die Welt so werbefrei sein wie São Paulo; unbehelligt von lästigen Botschaften schritte man durchs Paradies der reinen Sachlichkeit. Das gesamte Werbeaufkommen wäre in die Nachtschiene verbannt: Leuchtreklame würde nachts die Städte bunt machen, Fernsehspots liefen ausschliesslich nach Mitternacht, wenn eh kein vernünftiger Mensch mehr fernsieht, Pop-up-Fenster und Banner würden nur sichtbar werden, nachdem der Screensaver anspringt. Kurz: Wir könnten den Werbekuchen verschmähen und ihn gleichzeitig haben.

Bei näherer Betrachtung hat die Sache jedoch einen Haken. In dem Moment, wo Werbung wie die Geister der Untoten unterm Bett hervorglimmt, sich alsbald per Neuronenschnittstelle in unsere Träume einblendet und alles in allem unsere Nächte hässlicher macht als unsere Tage, ist doch wieder mehr verloren als gewonnen.


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"The Revenant", Alejandro G. Iñárritu (2015)

Plus: 14, 32, 74, 89, 118, 124, 130 doppelt, 149, 153, 156
Minus: 1, 13, 19, 43, 93, 99, 102, 138, 140, 202
Gesamt: 1 Punkt


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