Riesenmaschine

22.07.2006 | 09:31 | Papierrascheln | Vermutungen über die Welt

Die neue Poesie

Man bekommt ja eine Menge Post, dieser Tage. Kaum jemand liest sie mehr. Und noch seltener macht sich jemand die Mühe und beantwortet all die Mails, die sich ungefragt um Seelen- und Sexualheil des Empfänger sorgen. Neulich war eine darunter, die herausstach, und zwar wegen ihrer Betreffzeile: "Ich bedurfe mich deiner" Schöner, trefflicher hätten auch Ernst Jandl und Friederike Mayröcker das jähe, sehnsüchtige Drängen und Verlangen nicht in Worte kleiden können, das die Grammatik zum Purzeln und die Silben zum Tanzen bringt. Auch der Body-Text der Mail fiel nur unwesentlich gegen diesen furiosen Aufschlag ab:

Hallo.
liebe ich Sie mit meinem ganzen Herzen und Seele. vermisse ich Sie so viel. sende ich Ihnen mein Foto. Zeigen Sie es bitte zu Ihrer Familie und Freunden nicht.
Viele Kusse, Ihre Liebe.


Da war etwas. Ein Tonfall, wie man ihn – zumal in Spam-Mails – lange nicht mehr vernommen hatte und dessen sich der/die Schreiber/in namens "vaxine" womöglich selbst gar nicht bewusst war. Die Rückkehr der Poesie nämlich, einer neuen Form der Poesie, die sich ihre Wirtstiere und Trägermedien eigenmächtig und willkürlich sucht. Eine Himmelsmacht, die lange Zeit weltabgewandt überwinterte, während die Technokraten mit ihrer Verwaltungssprache und die Werber mit ihrem geistlosen Gefasel die Geschicke und Tonlagen hinieden bestimmten – und die sich nun anschickt, als mutiertes Virus oder virales Mem für die Wiederverzauberung der Welt zu sorgen. Oder wie sonst wäre zu erklären, dass eine Küchenfabrik aus dem Berliner Umland gestern in der Berliner Zeitung für sich wirbt mit dieser irrlichternd ragenden, an Gottfried Benn und Ernst Jünger geschulten Headline:


(Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)


Versetzt uns die Existenz eines klar umrissenen und einheitlich verfassten "Küchen-Berlins" bereits in Erstaunen, lässt uns die Vorstellung innerlich frohlocken, dass dieses angesichts der bevorstehenden Angebotsoffensive jetzt also "erzittert", und zwar nicht überall, sondern exakt und ausgerechnet "bis Waltersdorf". Solcherart sensibilisiert und mit frischer Empfindsamkeit ausgestattet, begegnet uns die neue Poesie plötzlich überall. So auch in einer Bildunterzeile in der aktuellen Ausgabe des Spiegel zu einem Artikel über verborgene Rohstoffschätze in den Nordmeeren, in der sich das flüchtig Feinstoffliche, das Fluide und das hammerhart Massive auf engstem Raum – ja! – verdichten.


(Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)


Keine Frage: Die neue Poesie ist unter und kommt über uns. (Wobei wir uns des bekannten psychologischen Phänomens, dass wer einen Hammer hat, überall Nägel sieht, durchaus bewusst sind und es bereits eingepreist haben.)


18.07.2006 | 02:16 | Supertiere | Alles wird schlechter | Papierrascheln

War nichts mit der Monogamie


So schön kann Promiskuität sein (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Nur kurze Zeit, nachdem Dämonen als Erklärungsmodell für alles ausgedient hatten, kamen die Menschen auf die Idee, ihre liebgewonnenen, aber bisweilen problematischen Schrulligkeiten den Genen in die Schuhe zu schieben. Das funktionierte gut, Nachrichten über frischgefundene Gene, die für Intelligenz, Homosexualität oder Übergewicht verantwortlich sein sollen, plätschern heute noch im Wochentakt durch die Zeitungen.

Deswegen sei hier nur darauf hingewiesen, dass statt Genen auch andere biologische Faktoren zur Erklärung menschlicher Eigenarten hoch im Kurs stehen: Das Zusammenspiel der aus der menschlichen Darmflora weidlich bekannten Bakterienlangweiler Methanobrevibacter smithii und Bacteroides thetaiotaomicron wurde für die Fettpolster von Mäusen verantwortlich gemacht. Damit stehen uns neben Designer-Antibiotika, die verschiedene dickmachende Keime erledigen sollen, auch kaum vorstellbare T-Shirt-Aufschriften ins Haus. Hingegen zeichnen weder Maus noch Bakterium für die sexuelle Orientierung von Männern verantwortlich, sondern die Zahl der älteren biologischen Brüder – die Mechanismen, die dahinter stehen, sind unbekannt, werden aber sicher nachgeliefert.

Und wenn diese Meldungen von den Tickern verschwunden sind, werden sie üblicherweise alsbald widerlegt – so funktioniert das Wunderwerk Wissenschaft. Gerade zum Beispiel gibt es schlechte Nachrichten für alle Wühlmäuse, die unter Berufung auf ihr Genom die Seitensprünge der letzten Woche erklären wollen. Ihre Monogamie-Mutation wurde nämlich als nicht relevant enttarnt. Auch genetische Befindlichkeiten bleiben Befindlichkeiten.

Dieser Beitrag ist ein Update zu: Dopaminnesang


11.07.2006 | 09:48 | Alles wird besser | Papierrascheln

Hier, warten Sie, meine Karte


Macht kaputt, was euch kaputt macht (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Das Leben des sogenannten Entscheiders ist ein unangenehmes. Allzuoft bekommt er Besuch von Menschen, die ihm etwas andienen möchten: Produkte, Texte, Ideen, Vorschläge, Demo-Bänder, Versicherungen, Rabatte und dergleichen mehr. Üblicherweise begint das Gespräch seitens des Bittstellers mit den Worten, "hier, warten Sie, meine Karte", gefolgt von einem mehr oder minder schwungvollen Zücken und Überreichen unklug gestalteter Visitenkarten, auf denen ungelenke Künsteleien zu sehen sind und Worte wie "fon" stehen. Es gibt wohl wenig gelungenere Möglichkeiten hierüber Missbilligung zu äussern als solcherlei erhaltene Visitenkarten ungesehen in den USB-SHREDDER gleiten zu lassen, sich am leisen Surren des Gerätes zu erfreuen und für sein Gegenüber ein freundliches, ja höfliches Lächeln anzuknipsen.


08.07.2006 | 19:28 | Anderswo | Papierrascheln

Kontextsensitives Koinzidenzmassaker


(Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Nichts läge uns ferner, als jede x-beliebige Titelgeschichte des SZ-Magazins zum Anlass und Aufhänger einer Berichterstattung zu nehmen, aber auch in dieser Woche führt kein Weg daran vorbei. Nicht so sehr allein wegen der Titelgeschichte "lecko mio!", in der es darum geht, dass Italien ein beklopptes Drecksland geworden sei, die italienischen Männer von Machos zu verzärtelten Muttisöhnchen degeneriert seien, die bis ins hohe Alter bei Mama wohnten und auch im Bett nichts mehr zustande brächten. Nein, eher wegen der Umschlag-Anzeige der italienischen Modemarke Dolce & Gabbana, darauf die halbe italienische Nationalmannschaft ohne Schweissrand-Trikots, und der ausgesprochen kontextsensitiven Plazierung in Kombination mit dem Titelblatt, wenn man das Heft rittlings aufklappt. Eine solche kontrapunktische Anti-Programmierung kommt normalerweise nur über Google Adsense in Blogs zustande, wo neben einem geharnischten Hassartikel zu einem Produkt das entsprechende Textbanner "Suchen sie ..." auftauchen kann. Nun also auch im Print, und – anders als wohl in diesem Fall – womöglich sogar mit (ironischer) Absicht. Wie auch immer: ein echter "Hingucker".


03.07.2006 | 13:01 | Papierrascheln | Vermutungen über die Welt

Langer Rede kurzer Sinn


Hilfsmittel für und gegen Filibuster (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Aus der bayerischen Provinz kennt man das Absurdum, dass man beim gemütlichen Beisammensitzen einander zunächst mit freundlichen Formalien wie "S Glas in'd Hand, zum Wohl mitnand!" zuzutrinken pflegt, um sich bald darauf streitend kräftig einen aufzusalzen. Oft brechen schon wenig später die eingereichten Protestnoten mit aller Härte der Bedeutung über die Köpfe herein. Auf dem Weg dorthin kann man jedesmal der Aufforderung begegnen, einen doch gefälligst erst ausreden zu lassen. Ganz egal, ob einem nun grosser Sachverstand nachgerühmt wird oder man eher als Dorfdepp gilt, ein jeder will ausreden dürfen. Diese alte Sitte wurde in vielgestaltigen Schattierungen vom Rest der Welt übernommen und in den USA sogar in Form von Filibustern zu einem Abgeordnetenrecht hochgeschrieben.

Die Einforderung des Rechts auf Sprechen, bis man fertig ist, sei aber widersinnig, so meint der Münchner Philosophie-Emeritus Robert Spaemann. In seinem Buch "Personen. Versuche über den Unterschied zwischen 'etwas' und 'jemand'", in welchem er auf vielen trefflichen Seiten die Monumentalthesen des zeitgenössischen Reduktionismus und Utilitarismus bekämpft, findet sich eine kurze Passage über Kontextbezogenheit und -unabhängigkeit menschlicher Sprache. Die Bedingung wahrheitsfunktionalen Sprechens, so Spaemann, sei die Parzellisierung ihres Sinngehaltes – Träger von Wahrheit sei nicht die ganze Rede, sondern die einzelne Satzaussage. Streng kontextbezogen sei immer nur der falsche Satz – der wahre Satz hingegen bliebe stets kontextunabhängig. Gespräche sind nach Spaemann nur möglich, wenn niemand erst voll ausreden müsse, um etwas Wahres zu sagen. Denn der Holist müsse in letzter Konsequenz das ganze Leben des Redners abwarten und erst nach seinem Tod dürfe er über den Wahrheitsgehalt seines Sprechens urteilen. Kurz: Man darf einen Redner also bei jeder irrigen Behauptung unterbrechen und verbessern.

Indes praktiziert man in der Grundsuppe aller Dialektik – also in Bayern – in Antithese zum grossmauligen Ausredenwollen schon längst auch das Spaemannsche Prinzip. Nämlich mit Hilfe des Masskrugs. Bei hinreichend grossem Impuls ergibt sich sogar die holistische Synthese, bis zum Ende des Redners abgewartet zu haben. Doch, wie überall in der Postmoderne, beginnen auch diese altehrwürdigen Sitten sich allmählich zu zersetzen.

Ruben Schneider | Dauerhafter Link | Kommentare (9)


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