Riesenmaschine

05.10.2006 | 18:12 | Essen und Essenzielles | Papierrascheln

Finsler im Fülscher


Falsche Spiegeleier, Nr.1149 (Bild: Johanna Fülscher)

Pomeranzenbrötchen Nr.1521, und anderes (Bild: Hans Finsler)

Falscher Salm Nr.194, Schwedische Eier Nr.159 und anderes auf Sulz Nr.165 (Bild: Bernhard Moosbrugger)
Die einen hängen in Frankfurt auf der Buchmesse auf blauen Sofas rum und stellen ihre Werke vor. Die anderen müssen zuhause bleiben. Und dort können sie nicht viel anderes tun als Bilder anschauen oder Fotzelschnitten kochen.
Diese Tätigkeiten aufs trefflichste verbinden kann, wer ein Fülscher-Kochbuch sein eigen nennt. Dieses nämlich glänzt nicht nur durch sein Fotzelschnittenrezept (Nr.1670) und seine 1758 weiteren Rezepte 'von internationalem Niveau', sondern ebenso durch seine Abbildungen, welche beim Kochen ganz nebenbei eine kleine Kulturgeschichte der kulinarischen Illustration erzählen.
Die funktioniert im Fülscher wie die Schweizerische Altersvorsorge: auf drei Säulen aus drei Epochen. Zuerst hat Johanna Fülscher in den 20er Jahren jedes einzelne Rezept mit einer kleinen, lehrreichen Tuschezeichnung illustriert (beachtlich: Äpfel als Igel, Nr. 1095). Später, in den 40er Jahren, hat Hans Finsler, das Bauhaus der Schweizer Photographie, eine dem Gegenstand – hier Kekse – angemessene Bildsprache zu entwickeln versucht. Diese Neue Sachlichkeit trifft dann völlig unvermittelt auf die Bilder eines offensichtlich Perversen von Bernhard Moosbrugger, einem Schüler von Finsler. Ganz im Geiste der 70er Jahre wird hier das Essen immer symmetrisch, aber lieber noch gepunktet, gemustert (Rauten!), geschichtet oder getürmt angerichtet – wobei die Königsdisziplin wohl die Gegenständlichkeit (Tannenzapfen mit Mokka-Buttercrème, besteckt mit Mandelschuppen, Nr.1363) gewesen sein dürfte.

Die verlegerische Geschichte des Fülscherkochbuchs verliert sich irgendwann im Dunkeln, dem Weltbild Verlag gebührt Dank dafür, ungefähr die achte Auflage jetzt wieder neu aufgelegt zu haben. Stören wir uns nicht zu sehr am stinkenden Papier dieser Ausgabe, der miesen Druckqualität der Finslerbilder oder daran, dass aus unerfindlichen Gründen fast alle Tuschzeichnungen fehlen, freuen wir uns vielmehr am zurückgewonnen Wissen. Denn wer weiss denn heute noch, wie 'Verbrühte Kugeln' (Nr.1685), 'Plattenmüesli (Nr. 1206), Hirnpudding (Nr.291) oder 'Plaisir des Dames' (Nr. 1585) gehen? Die Herren auf dem blauen Sofa sicher nicht.


23.09.2006 | 13:11 | Anderswo | Zeichen und Wunder

Schnapstor


Nach Ansicht des Gemeindepräsidenten kann man über Kunst immer geteilter Meinung sein. Bild: Christoph Rösch, NAIRS
Samnaun ist ein kleines Nest im östlichsten Zipfel der Schweiz, fast schon in Italien, praktisch schon in Österreich. Alleinstellungsmerkmal Samnauns ist eine Eigenschaft, die es lediglich mit internationalen Flughäfen teilen muss: es ist zollfreies Gebiet. Nur über einige Passstrassen zu erreichen, pflegte Samnaun jahrhundertelang engere Handelsbeziehungen zum nahen Tirol als zur Restschweiz. Mit der Zentralisation des Zollwesens (1848) verlor Samnaun seine wichtigsten Handelspartner und Einnahmequellen, darum wurde es aus dem Schweizerischen Zollgebiet ausgenommen und war fortan zollfreies Gebiet. Geplant war, diesen Status wieder aufzuheben, sobald Samnaun mit einer ordentlichen Strasse mit der Schweiz verbunden sei. 1912 war dies soweit, doch Samnaun blieb zollfrei. Bis heute – und so ist das Dorf heute eine Art bewohnter, hässlicher Supermarkt für Touristen, die zum Schnapskauf anreisen.

Roman Signer hingegen ist ein Schweizer Künstler, der eigensinnig, humorvoll und mit einem untrüglichen Gespür für die Poesie von physikalischen Experimenten seit Jahren auf mit Wasser gefüllte Fässer schiesst, Farbe oder Schnee explodieren, Stühle rumfliegen, Sand rieseln, Modellhubschrauber abstürzen oder einfach Dinge in Dinge rollen lässt. Meist spielen Gummistiefel, Fässer, Raketen, Waffen, Kajaks oder Schläuche eine Hauptrolle; Lawinen, Staumauern und Vulkanausbrüche stehen Pate. Signers Arbeiten mögen manchen sinnlos erscheinen, als anstössig oder störend wurden sie selten empfunden.

Dies mag der Grund gewesen sein, dass der Gemeinderat von Samnaun einen bescheidenen Beitrag von 2000 Schweizerfranken versprach, als die Kulturstiftung 'Nairs' anfragte, ob im Rahmen des Projekts transit.engiadina eine skulpturale Arbeit von Signer am Dorfeingang installiert werden könne. Samnaun erwartete allenfalls ein paar blaue Fässer oder rote Kanus, stattdessen bekam man eine Interpretation eines mittelalterlichen Stadttors in Form einer Stahlkonstruktion, auf der 59 Schnapsflaschen angeordnet waren. Unschwer zu erraten, dass die Samnauner damit nicht glücklich wurden. Wie dieses Protokoll – das übrigens eine hübsche kleine Posse um die Zusammensetzung des Gemeinderats (mehr als 50% Jenals, ergänzt von einigen Zeggs) sowie interessante Informationen zu Lawinensprengmasten enthält – beweist, wurde die 'Schnapstor' geheissene Skulptur als 'störend' und 'billige Werbung für Samnaun' empfunden. Einige Zeit später war das Tor einen halben Meter höher und mit einem grossen Werbebanner der Gemeinde versehen, sodass die Werbung zumindest nicht mehr billig und die Schnapsflaschen kaum sichtbar waren. Nairs und Signer intervenierten gerichtlich und Samnaun musste das Schnapstor zähneknirschend in den Originalzustand zurückbauen.

Kürzlich nun löst ein Bagger einer regionalen Baufirma das Samnauner Problem, indem er das Tor rammte. Der Gemeinderat liess verlauten, natürlich sei dies ein bedauerlicher Unfall, der aber korrekt gemeldet worden sei, von Absicht keine Spur aber leider sei die Installation nicht mehr zu retten, überhaupt, die Sicherheit, man habe sicher Verständnis. Gut wenigstens, dass der Gemeinderat die versprochenen 2000 Franken nie bezahlt hat.


06.09.2006 | 02:11 | Anderswo | Supertiere | Fakten und Figuren | Vermutungen über die Welt

Down Under Syndrom

Vorgestern wurde Steve 'crocodile fucker' Irwin von einem Rochen erstochen, gestern wurde ihm bereits ein Staatsbegräbnis offeriert und dadurch wurde spätestens heute einem jeden klar, wie unverständlich uns das Wesen, ja eigentlich die blosse Existenz des windelförmigen Landes unten rechts eigentlich ist. Ein Land, dessen grösste kulturelle Leistung nach Nick Cave den Titel 'Die Dornenvögel' trägt, dessen einzige Sehenswürdigkeiten ein grosser roter Stein und eine von einem Dänen gebaute Oper sind, und dessen grösster Volksheld ebendieser Steve Irwin ist – eine Art Crocodile Dundee, dem es Spass machte, mit rechts Krokodile mit blutigen Fleischfetzen zu füttern, nicht ohne einen einmonatigen Säugling unter dem linken Arm zu tragen und der sich gegen die Dezimierung der längst zur Plage gewordenen Kängurus stark machte, der auch gerne mal öffentlich weinte, wenn er ein Krokodil 'verlor'; ein Land, das sich freiwillig (in einer Volksabstimmung) dem britischen Königshaus unterstellte und dessen einziger Zweck es zu sein scheint, für pubertierende Abiturientinnen Raum für ein Austauschjahr bereit zu stellen – ein solches Land muss irgendwie das Produkt eines Unfalls sein, das hätte man auch geahnt, wenn die Wissenschaft es nicht gerade herausgefunden hätte (wir berichteten). Es ist irgendwie, als ob es sich ein paar Obdachlose in drei sich verkeilten Autowracks gemütlich gemacht hätten. Man sollte den Australiern gegenüber also nicht allzu böse sein, man sollte ihnen vielmehr mit Gelassenheit und Nachsicht gegenübertreten und sich an den wenigen gelungenen Features (Wombats! Tasmanien!) freuen.


08.08.2006 | 15:51 | Alles wird besser

Halbgötter (irgendwann)


Junger Halbgott beim Herumtollen (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Werden Historiker späterer Kulturen die Nagetiere als die Gottheiten der Riesenmaschine beschreiben, so werden sie möglicherweise knubbelige Fahrzeuge als ihre Halbgötter bezeichnen. Kleine, mittlere oder auch grosse. Sogar halbfertige Halbgötter seien verehrt worden.

Gute Chancen auf einen Platz auf dem Altar der knubbeligen Verkehrsmittel darf sich auch der coaster machen. Seine Schöpfer befreien erstmals das seit Jahrzehnten etwas festgefahrene Konzept 'Aufzug' vom störenden Schacht, kreuzen es mit einer Strassenbahn und versehen es mit einer süssen Karosserie. Auf Knopfdruck rollt der Coaster heran und bringt einen nach A, B oder C, auch nachts um drei und angetrunken.

Wer aufgrund der nebenstehenden Bilder – sie zeigen einen jungen Coaster beim Spielen auf seiner Teststrecke – denkt, der Coaster könnte niemals zu einem ernstzunehmenden Verkehrsmittel werden, könnte sich täuschen. Mehrere zum Teil autofreie Schweizer Gemeinden (Zermatt, Flims-Laax) denken über die Einrichtung einer Coasterbahn nach, in Arosa wird bereits an einer solchen gebaut.


06.08.2006 | 12:09 | Nachtleuchtendes | Sachen kaufen | Papierrascheln

Die Intensität der Normaldusche


Bringt Väter zum Weinen: zu wenig Speicherplätze (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Jeder kennt das: Man sitzt bei Freunden auf dem Klo und sucht vergebens und zu spät nach den Feuchttüchern. Nur unfreundliches, wenn auch ökologisches Toilettenpapier, hergestellt aus den alten Zeitungen wildfremder Menschen, hängt traurig an der Wand und automatisch denkt man: Ob meine Freunde wohl auch mit Papier duschen?
Wir wollen nicht darüber spekulieren, was spätere Generationen darüber denken werden, dass es Zeiten gab, in denen jede Wohnung zwar mit einer Dusche ausgestattet war, man sich aber einige Körperregionen mit trockenem Altpapier reinigte, wir wollen vielmehr den vermehrten Einsatz von Toiletten mit integrierten Duschen fordern. Zum Beispiel jene der Firma closomat, für die Hans Maurer bereits 1957 das erste Dusch-WC baute. Namentlich fordern wir die vermehrte Anwendung des Modells 'Aquaris' – denn nur hier ist neben Selbstverständlichkeiten wie der speziellen Lady-Dusche, der pulsierenden Dusche, der oszillierenden Dusche, der Dusche mit "Kneipp"-Effekt, der einstellbaren Intensität der Normaldusche, der unterbrechbaren Geruchabsaugung mit Aktivkohlefilter, der automatisch absinkenden Föntemperatur des Warmluftgebläses, dem integrierten Orientierungslicht, der akustischen und der interaktiven Diagnose und der automatischen Desinfektion des Duscharmes eine Wellness Management Unit erhältlich, mit der drahtlos 'Volumenstrom und Mediumtemperatur' nicht nur geregelt, sondern auch für bis zu vier Benutzer als persönliches Profil gespeichert werden können.

Bis zu vier Benutzer? Hier sind bei aller Begeisterung dann doch deutliche Worte der Kritik angebracht. Abgesehen davon, dass vier eine jämmerlich kleine Anzahl ist – jedes japanische Billigradio hat mindestens neun Senderspeicher – bringen es sensible Gemüter ja schon kaum übers Herz, die Telefonnummern verstorbener Freunde aus dem Handyspeicher zu löschen. Wieviel schmerzhafter es dann für einen Familienvater mit zwei Kindern sein muss, auf dem Klo sitzend das von der verstorbenen Ehefrau so sorgfältig angelegte Benutzerprofil des closomaten zu löschen, weil die neue Freundin einen eigenen Speicherplatz beansprucht – das sind Vorstellungen, von denen wir wirklich lieber verschont geblieben wären.

Dieser Beitrag ist ein Update zu: Closomat


2 3 4 5 6 [7] 8 9 10 11 12 ...

*  IN DER RIESENMASCHINE


*  ORIENTIERUNG



Werbung
Werbung Ratgeber

*  SO GEHT'S:

- Trojanisches Pferd zu Tode reiten

- Drogen (manche)

- Sichtbares

- Moebiusband quer zerschneiden

*  SO NICHT:

- opernbedingte Schreibblockade

- ungeplant versterben

- übergradeter Müll (schrott wax)

- Unsichtbares


*  AUTOMATISCHE KULTURKRITIK

"Dead Snow", Tommy Wirkola (2009)

Plus: 3, 8, 10, 21, 41, 74, 80, 101, 104, 127
Minus: 99, 119
Gesamt: 8 Punkte


*  KATEGORIEN


*  ARCHIV