Riesenmaschine

06.07.2010 | 13:36 | Anderswo | Alles wird besser

Gentrifizierung mit menschlichem Antlitz


Wasser, Seife, Fön, Spritze; in Zürich wird nichts vergessen. Bild: Ph. Hübner

In Zürich haben auch Drogenkonsumenten ein Recht auf gutes Design und hübsche Piktogramme. (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
Wir erinnern uns: Bis ca. 2007 war die Zürcher Josefswiese ein ganz normaler, kleiner Park in Zürichs Kreis 5. Familien, Szenis und ein paar Randständige verbrachten dort ihre Abende im Schatten der Kehrrichtsverbrennungsanlage und des historischen Bahnviadukts. Doch irgendwann 2008 muss Rolf Vieli, dem Leiter des Aufwertungsprojekts Langstrasse Plus – einer Art städtischen Büros für Gentrifizierung – zu Ohren gekommen sein, dass auf der Josefswiese hin und wieder Drogen konsumiert werden und dass der Kiosk wieder einmal neu gestrichen werden müsste.

Es wurde bei Fachleuten für Sozialforschung und Sozialanalyse ein Gutachten in Auftrag gegeben, das auf gut 50 Seiten das Verhalten der Städter nach Geschlecht (40% Weiblich, 49% Männlich, 11% unbestimmt, siehe S.4), Aufenthaltsbereich, Aktivität, Bewegungsabläufe, Art der Bewegung, Konsum, Image, Konflikten und Hunden in Abhängigkeit der Sonnenscheindauer und des Temperaturverlaufs analysierte. Neben der Erkenntnis, dass nachts weniger Kinder anzutreffen und "Telefonkabinen, Abfallkörbe, Lichtkörper und Sitzgelegenheiten" nicht nur "gut platziert", sondern auch "einheitlich gestaltet" sind (S.52 f), wurde festgestellt, dass eigentlich alles ganz gut, sicher und sauber ist.

Das Problem wurde nun auf gewohnt zürcherische Art angegangen: mit viel Geld und gründlich. Die ganze Anlage wurde komplett saniert, der denkmalgeschützte Kiosk perfekt instand gestellt, die Eis-Auswahl auf die üblichen LOHAS-Sorten (mit Bio-Agavendicksaft gesüsst, in Zürich unter fairen Bedingungen hergestellt, von Fahrradkurieren ausgeliefert) umgestellt. Dass nicht nur der Umbau, sondern danach auch das Bier gerne ein bisschen mehr kosten darf, daran hat man sich in Zürich mittlerweile gewöhnt.

Nur dort, wo vorher ein paar gewöhnliche Toiletten waren, finden sich jetzt diese pflegeleichten Chromstahlboxen, die es mittlerweile auch auf jeder Schweizer Autobahnräststätte gibt – eine All-in-One-Lösung, die für alle Anwendungen mit einem einzigen grossen Becken auskommt, was wir an dieser Stelle nicht näher erklären wollen. Hier kollidierten wohl die Anliegen der WC-Behörde ("Züri-WC" – sauber und sicher) mit denen der Aufwertungsstelle.

Doch natürlich wäre Zürich nicht Zürich, wenn man nicht einen Kompromiss gefunden und dieses Standardmodell noch ordentlich aufgebohrt hätte: Anstelle der Chromstahlwände finden sich hübsche, rückwärtig grau-blau gespritzte Glaswände, die Decke ist aus hinterleuchtetem Milchglas gefertigt. Und falls sich doch irgendwann noch ein Randständiger in die nunmehr schicke "Josi" verirren sollte, wurde mit dem separaten Einwurf für gebrauchte Spritzen auch seinem Bedürfnis nach einer ordentlichen Mülltrennung Rechnung getragen.

Dieser Beitrag ist ein Update zu: Swissialism, update


02.07.2010 | 16:27 | Alles wird besser

Free Repair


"Ach, ich bitte Sie, das ist doch eine Selbstverständlichkeit, gerne geschehen, auf Wiedersehen, Herr Filialleiter"; Bilder: (c) Roland Roos (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
Alles wird ja immer schlechter, geht den Bach runter und kaputt, zumindest solange es nicht gehätschelt und gepflegt und von Kabelbindern zusammengehalten wird. Werden die physischen Dinge der Welt nicht von einem ständigen Strom aus Aufmerksamkeit, Geld und Schweiss versorgt, sind sie allesamt schnell defekt und am Arsch. Im öffentlichen Raum beschleunigt das, was in bürgerlichen Kreisen gerne als "Street Art" bezeichnet wird, diesen Prozess leider oft noch zusätzlich. Eine löbliche Ausnahme hat die Riesenmaschine bereits beschrieben, doch Roland Roos berührt mit seinem Projekt "Free Repair" noch deutlicher den Kern des Problems.

Roos reiste zwei Jahre durch Europa und reparierte – ohne Auftrag, aber auch ohne Erlaubnis – alles, was ihm Kaputtes zwischen die Finger kam: Zäune, Strassen, Möbel, Schilder, Firmenlogos, Beschriftungen, Fenster, Schaufenster oder Autoreifen. Roos hat eine handwerkliche Ausbildung und arbeitet professionell und mit gewohnt schweizerischem Perfektionismus. Die meisten Interventionen sind also, kaum abgeschlossen, gar nicht mehr sichtbar.

Schon die Vorstellung, wie der Leiter einer kleinen Filiale eines Discounters eines Morgens ins Geschäft kommt und das defekte Firmenschild, dessen Reparatur er schon so lange aufgeschoben hatte, einfach wieder ganz ist, macht grinsen. Doch die Vorstellung, wie Roos in einem OBI-Baumarkt Werkzeuge, Materialien und Farben kauft, um den OBI-Biber vor der Tür zu reparieren, und danach wortlos von dannen geht, birgt neben vielem anderen eine skurrile Grösse.

Roos ist wie ein Hilfswerk ohne moralischen Auftrag, das niemand wahrnimmt. Und sein Projekt ist so extrem gegen den Lauf der Welt und gegen jede ökonomische Vernunft gedreht, dass es dem Betrachter zeitweise fast unecht vorkommt. Doch es bleibt die Tatsache, dass einer einfach zwei Jahre durch die Welt geht, ihre Fehlstellen und Unzulänglichkeiten heilt, und die macht glücklich.

"Wie? Ja, jetzt passts wieder... Neinnein, sie schulden mir nichts, war ja kaum anzuschauen, was die Herren Kollegen da gelegt haben." Bilder: (c) Roland Roos (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)



Dieser Beitrag ist ein Update zu: Legotopie


04.06.2010 | 00:03 | Anderswo | Alles wird besser

The Intercity that never sleeps

also am besten, man schaffte das Anfangen komplett ab, so dass es weder Anfang noch Ende gäbe.

Denn Dinge anzufangen ist mühsam. Dabei liegt die Lösung so nah: Einfach keine Dinge mehr anfangen – aber dafür auch nie wieder mit irgendwas aufhören.

Dieses chinesische Konzept für einen Zug, der niemals hält, zeigt wie es geht. Ein Schnellzug trägt eine Art Sozius-Zug huckepack und klinkt ihn an Bahnhöfen sanft ein und wieder aus. Da Passagiere zwischen beiden Zügen während der Fahrt umsteigen können, muss der Schnellzug nie anhalten.

Jedem Anfang wohnt ein Zaudern inne, der Prokrastinateur weiss es, die Physik lehrt es uns. Anstatt Dinge enden zu lassen, wäre es


22.05.2010 | 02:32 | Anderswo | Alles wird besser | Essen und Essenzielles

Swissialism, update


Bratwürstchen-Kommunismus am Zürichsee (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
Wir haben ja an dieser Stelle schon mehrfach darüber gemutmasst, ob die Schweiz nicht eigentlich als verkappt sozialistisches Gemeinwesen die DDR in gut emuliert, zuletzt angelegentlich der öffentlichen Grills, die an innerstädtischen Plätzen zur freien Verfügung vorgehalten und regelmässig gereinigt werden. Aber was tun, wenn gerade keine Grillkohle und Anzünder zur Hand? Zum Wohle, Nutzen und Frommen auch dieser verpeilten Genossen hat der Sowjet der Stadt Zürich die Einrichtung öffentlicher Elektrogrills beschlossen und am Seeufer in Wollishofen, unweit der Roten Fabrik (!) auch bereits umgesetzt. Münzeinwurf: Fehlanzeige. Einfach Knopf drücken und Grillgut auflegen. Wo kämen wir denn da hin?

Dieser Beitrag ist ein Update zu: Zürich-Spezial V: Der Beste Ort der Welt 1.9


17.04.2010 | 01:58 | Alles wird besser | Essen und Essenzielles

XYCHINE XTEST


Hier war ein Foto einer Dose Xyience Xenergy, aber kann man sich ja denken, wie so was aussieht
Die Zukunft der Energydrinks muss neu geschrieben werden. Das gilt natürlich nur, falls die Zukunft überhaupt schon geschrieben worden ist und wenn ja, von wem, was niemand so genau weiss. Deshalb zunächst einmal etwas über die Vergangenheit, so eine Art Zukunft für Arme. Dort nämlich wurde vor einem Jahr oder so bei Xyience beschlossen, eine Xenergy-Serie aus Energiegetränken herzustellen, die nicht nur alles enthalten, was man in so einen Trunk hineinhauen kann (Taurin, Koffein, Guarana, Gingseng, Vitamine X, Y, Z), sondern ausserdem auch noch nicht nach Pferdeurin schmecken wie nahezu alle Vorgänger. Das muss als mittleres Weltwunder gelten, ein Perpetuum Mobile in Flüssigform, hat sich die Wissenschaft doch vor geraumer Zeit darauf verständigt, dass Energydrinks immer, immer, immer nach Pferdeurin schmecken. Xenergy gibt es in X verschiedenen Geschmacksrichtungen, von denen eine, Cherry Rush, gnadenlos herausragt und den Rest des Getränkesektors mit einem machtvollen, satten Fump plattmacht. Cherry Rush schmeckt wie eine Mischung aus New Age, Panprotoexperimentalismus und stark gezuckertem Möbiusband, und viel mehr kann man von der Zukunft kaum verlangen. Wenn sie denn nur endlich mal käme.


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