Riesenmaschine

04.12.2006 | 18:54 | Anderswo | Fakten und Figuren

Die Kunst des Namedropping


Kunst (c)Tate 2006 (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)

Keine Kunst (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Heute Abend wird in London der diesjährige Turner-Preis an einen der vier Nominierten verliehen, als da wären Tomma Abts, Mark Titchner, Rebecca Warren und Phil Collins. Unabhängig davon, wer nun gewinnt, oder gewonnen hat (die Buchmacher halten wie das deutsche Feuilleton zu Tomma Abts), gibt uns das Gelegenheit, einen kurzen Moment lang über Künstlernamen zu konjekturieren. So ist nicht ausgeschlossen, dass die Popularität von Paul McCarthy zumindest zum Teil auf der Verwechslung mit einem gewissen Ex-Beatle gründen könnte. Dies obwohl dessen Versuch, seinerseits in die bildende Kunst einzusteigen, 1999 in Siegen insgesamt eher sang- und klanglos verlief, auch wenn für die Ausstellung eigens Schilder an der Autobahnausfahrt installiert wurden. Ebenfalls schwer zu sagen, ob der deutsche Fotograf Boris Becker eher unter der Namensgleichheit mit dem Tennisspieler leidet oder davon profitiert. Immerhin taucht er mit seiner Website bei Google bereits an dritter Stelle auf, anders als sein Kollege John McEnroe, nach dem man wirklich sehr gezielt im Wimbledon-Meer suchen muss. Nun also auch noch Phil Collins, dessen prominenter Namensvetter immerhin aktenkundig noch nicht malerisch oder bildhauerisch in Erscheinung getreten ist. Wir sind gespannt, wann der erste Elton John der Kunstwelt auftaucht. Bei der Musikerin und Künstlerin Yoko Ono handelt es sich übrigens um ein und die selbe Person.


03.12.2006 | 03:05 | Anderswo | Fakten und Figuren | Essen und Essenzielles

Der goldene Rachen – kein Märchen


Und hier die Lösung
Vieles wurde vermutet, am Ende aber hatte keiner wirklich Recht. Bei dem Produkt, das wir weiter unten suchten, handelt es sich nämlich keineswegs um ein Kondom, Toupet oder Damenbinden, sondern um die nicht nur in China berühmten Jinsangzi Houpian, verenglischt Golden Throat Lozenges, also Kräuterbonbons, die Wassermelonenzucker, Luohan-Frucht, Eukalyptusöl, Mentholkristalle sowie chinesische Kräuter enthalten, und die unter anderem bei Halsschmerzen und Heiserkeit ausgezeichnet helfen. Das traurige Gesicht aber gehört Professor Wang Yaofa, einem bekannten chinesischen Biologen, der das Rachengold Chinas erfand.

Rachengold im wahrsten Sinne des Wortes. Der Umsatz der Guangxi Jinsangzi Co. bzw. Guangxi Golden Throat Group, die 1994 aus Süssigkeitenfabrik Nr. 2 in der südchinesischen Stadt Liuzhou hervorging, allein mit diesen Lutschbonbons beträgt pro Jahr 50 Millionen Euro. Dieser Erfolg ist aber nicht nur der Rezeptur des ernsten Professors Wang geschuldet, sondern auch den Theorien Deng Xiaopings und den "Drei Repräsentationen" des ehemaligen Staatspräsidenten Jiang Zemins, die der Firmenvorstand konsequent auf die Produktion, die Verpackung und Werbung anwendet. Vorstandsvorsitzende ist die ehemalige Arbeiterin Jiang Peizhen. Stellvertretend für ihr Kollektiv und die wohlschmeckenden Halsbonbons wurde Frau Jiang mit unzähligen Auszeichnungen überhäuft, darunter zuletzt "Hervorragende Arbeiterin auf dem Gebiet der nationalen pharmazeutischen Industrie" (2001), "Ausgezeichnete Pionierfrau 2002" und "Nationale Rote Banner Schrittmacherin" (2004).

Inzwischen gibt es das hervorragende Produkt auch in Australien, Russland, den USA, Japan, Singapur und den Vereinigten Arabischen Emiraten zu kaufen, sowie leider nicht bei DoorOne, sondern hier. Dass trotzdem nicht ein RM-Leser wusste, wer und was da zu sehen war, zeigt die anhaltende Ignoranz gegenüber überlegenen chinesischen Produkten sowie Glatzentestimonials in Deutschland. Immerhin, ganz nah dran war Leser/in everywear. Er/sie hat gewonnen, und zwar eine Packung der goldenen Halstabletten und ein Bier, im nächsten halben Jahr hier in Peking abzuholen. Der unwissende Rest möge die Seite der Goldenen Rachen-Gruppe sorgfältig studieren, den Golden Throat Spirit ("strict, diligent, creative, excellent") auf- und annehmen und mit uns am Ende die Hymne vom Goldenen Rachen anstimmen, die da auf Englisch lautet: "Show your golden throat!"

Dieser Beitrag ist ein Update zu: Teures Gesicht

Christian Y. Schmidt | Dauerhafter Link | Kommentare (5)


01.12.2006 | 12:32 | Fakten und Figuren | Zeichen und Wunder

Lieb gemeint, Sony Ericsson, aber lass mal


(Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Vor kurzem stand hier der Aufruf, verständliche Piktogramme zu Indifferenz und Ignoranz vorzuschlagen. Umgehend schaltete sich Sony Ericsson ein; die selbstlose Zuverfügungstellung des Logos ist zwar löblich, aber nicht besonders durchdacht. Man kann schliesslich nicht von jedem verlangen, dass er ein Airbrush-Set mit sich herumschleppt, um Heike aus der 9B zu sagen, dass sie doch nur so mittel ist. Oder den ganze Aufwand für die einfache Mitteilung, dass man mit Tomte nicht so viel anfangen kann?

Besser wäre es, die Kontur einer Milz für eine indifferente Haltung zwischen Personalpronomen und Objekt zu platzieren. Zu jedem hinlänglich platten Kringel gibt es einen Organismus, dessen unverstandenes Lymphorgan darauf passt. Es sagt sich ohnehin leichter: Ist Milz, wie laut du deine Musik hörst.

Dieser Beitrag ist ein Update zu: Ich ... Neukölln


26.11.2006 | 13:37 | Anderswo | Fakten und Figuren

Gestern oder vorgestern


Historic Reenactment (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Geschichte ist ein seltsames Fach, weil es oft von denen betrieben wird, die gerade den letzten Krieg gewonnen haben, und daher die Massstäbe relativistisch durcheinanderverzerrt werden. Man hat sich mittlerweile daran gewöhnt, dass Amerikaner beim Anblick jeder fünfhundert Jahre alten Mauer in ekstatische Verzückung ausbrechen, und aus diesem Grund selbst Heidelberg oder gar England gut finden. Man weiss, dass sie alles, was sie vor dem zweiten Weltkrieg gebaut haben, "historic" nennen, warum auch nicht. Und man weiss, wie verbittert sie sich wünschen, eine eigene, reichhaltige, uralte, kontinentale Besiedlungsgeschichte zu haben, so wie die blöden Europäer eben. Aber bitte nicht mit irgendwelchen Wilden, und darum ist es nur konsequent, wenn lediglich 500 Jahre alte Irokesendörfer in der offiziellen amerikanischen Archäologienomenklatur nicht nur als historisch, sondern gar als prähistorisch gelten – und damit über den Ozean gerechnet auf einer Stufe mit den Höhlenmenschen landen.

Das ist ein bisschen unverschämt. "Prähistorie" bezeichnet in der Regel den Teil der Geschichte, aus dem keine schriftlichen Aufzeichnungen vorliegen, man muss sich also anders behelfen. Natürlich hinterliessen die Irokesen nichts richtig Schriftliches, sie erzählten sich alles lieber am Lagerfeuer, schliesslich hatten sie nicht mal elektrischen Strom, geschweige denn Internet. Aber dafür hatten sie eine Art Langhäuser, ein schwer verständliches Wirtschaftssystem, eine "egalitäre Konsensdemokratie", eine Art grossräumige Gesellschaftsordnung, eine strategische Militärplanung, eine Religion ungefähr auf dem Stand der alten Griechen und zudem das mythische Ballspiel Lacrosse, den ohne Zweifel attraktivsten Sport in Nordamerika. Haben die Neandertaler etwa Tischtennis oder etwas ähnlich Anspruchsvolles erfunden? Sie hatten ja nicht mal Tische, im Gegensatz zu den Irokesen übrigens. Also. Einigen wir uns darauf, dass die Irokesendörfer aus der prä-olympischen Lacrossezeit stammen, dann sind alle zufrieden.


25.11.2006 | 12:55 | Berlin | Alles wird schlechter | Fakten und Figuren

Barock the block


Niemals vorher war soviel Kunst so überall, echt jetzt mal (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Die Gestaltung des öffentlichen Raumes ist eine strukturelle Sache der Macht und des Geldes, die bestimmenden Faktoren aufgehängt zwischen stadtentwickelnder Politik, Architektur und Kapital einerseits und Wirtschaftskommunikation und Kapital andererseits. Wenn man also der Stadt seinen Stempel aufdrücken möchte, muss man eine Verordnung erlassen, ein Haus bauen oder Werbung schalten – drei Gestaltungsmöglichkeiten, die nicht unbedingt im Alltagsinstrumentarium des Durchschnittshaushaltes im Übermass vorhanden sind. Die zahlreichen, aber eklektischer kaum sein könnenden Gegenbewegungen reichen von Graffitkünstlern über Eddingschmierer und Fensterkratzer bis hin zu ebenfalls vollkommen verschiedenen programmatisch-politischen Gestaltern wie Reclaim the Streets, Adbusters, Anonyme Architekten und vieles andere, was man im hervorragenden, internationalen Blog Wooster Collective verfolgen kann. Gemein war den weitaus meisten Privatgestaltern bisher ein verhältnismässig progressives Kunst- und Kulturverständnis; kein Wunder, wo die Form so neu ist, fällt es oft schwer, ältere Inhalte zu transportieren, wie gut sie auch sein mögen. Deshalb gibt es auch nur ein deutsches Proust-Blog, aber 34.368 gadgetorientierte.

So musste – wir haben es bereits einmal tränenreich bedauert – die Strassenkunstszene weitestgehend ohne bildungsbürgerliche Inhalte auskommen. Bis jetzt. In Berlin läuft jemand herum, der Cutouts, im Prinzip also ausgeschnittenes Papier, an Häuser anklebt, und das mit Motiven, längst werden Sie es erkannt haben, von Velasquez. Hier das berühmte Motiv des Prinzen Baltasar Carlos als Jäger von 1635/36, befindlich im Prado. Und derzeit auch als Streetart im Berliner Wrangelkiez. Aber wer macht eine so charmante Mischung von Hochkultur und grenzlegaler Umwidmung öffentlicher Flächen? Handelt es sich um eine Streetart-Offensive der FAZ-Jugend? Sind wir Zeugen eines nächtlichen Vandalismusfeldzugs maskierter Kunsthistoriker? Oder ist es am Ende doch nur Werbung für Grossformat-Farblaserdrucker mit einer Zielgruppe ab 60 Jahren?

Dieser Beitrag ist ein Update zu: Stuckrad-Starre


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