16.08.2006 | 11:02 | Alles wird besser | Essen und Essenzielles
 "White.Wet.Delicious." (wsanders, Lafayette, CA) (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.) Milch, ein Superzeug. Kühe ficken darin, Kinder lieben es, und auch Erwachsene der weissen Rasse, die sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte an den Verzehr angepasst hat, können Milch in kleinen Dosen vertragen. Seit neuestem gibt es Milch in grossen Plastikdosen auch über das amerikanische Amazon zu bestellen, ebenso wie andere frische und leicht verderbliche Lebensmittel. Und siehe da: Kunden, die Milch gekauft haben, haben auch Bananen, Weintrauben und Tomaten geordert.
Trotz der erstaunlichen Logistikleistung des Online-Versenders polarisiert die neue Frischelinie stark, wie sich aus den Kundenrezensionen entnehmen lässt. So moniert etwa ein VR aus Albuquerque, dass die Tuscan Whole Milk zur Dachabdichtung gänzlich ungeeignet ist, während Paul Foster aus Austin angibt, seinem Kätzchen seien nach dem Konsum Laserstrahlen aus den Augen geschossen. Mittlerweile ist der Strang auf knapp 700 Einträge angeschwollen – durchsetzt mit zahllosen Haikus und anderen inhaltlich wie formal ansprechenden Annäherungsversuchen an den Gegenstand. Wohl noch nie ist etwas bei Amazon so ausführlich und einfühlsam rezensiert worden. Auch die anderen Frischeprodukte erfahren eine ebenso fein verästelte wie kontroverse Würdigung, was sich in der Summe zu einer belastbaren Lebensmittel-Poetologie verdichtet, wie sie Richard Herzinger immer gefordert hat. Oder war es Rainald Goetz?
15.08.2006 | 18:34 | Supertiere | Alles wird besser | Papierrascheln
 Bildunterschrift sieht so ähnlich aus wie eine Bildunterschrift unter einer Maus vor 500 Millionen Jahren (Foto: Roxeteer / Lizenz)500 Millionen Jahre Evolution für nichts und wieder nichts? Die Herren Tvrdik und Capecchi haben Mäusen ein rekonstruiertes Hox-Gen aus dieser Zeit untergejubelt, eine Art Gen also, das allerlei grundlegende Mechanismen in der Embryonalentwicklung regelt und gewöhnlich nicht für Scherze zu haben ist. Ergebnis: Die modifizierten Mäuse ähnelten den gewöhnlichen von heute aufs Haar. Jedenfalls berichtet dies die BBC mit journalistischer Straffung der Originalergebnisse, andere verstehen unter "ähnlich" sichtbare Unterschiede. Griffiger wäre es ohnehin gewesen, wenn die antiquierte Maus mit ordentlich Hörnern, extra Beinen und Dinosaurier-Kaltmach-Krallen geglänzt hätte. Dann müssten die Autoren auch nicht mit "Wir haben die Evolution umgekehrt" zitiert werden, um ein bisschen Bohei um die Arbeit zu machen. Glücklicherweise dürfte es den interessierten Lesern möglich sein, die Aussagen von Capecchi aus den unterschiedlichen Artikeln zusammenzubauen. Evolutionsbiologen haben dazu schöne Algorithmen entwickelt.
15.08.2006 | 14:16 | Berlin | Anderswo | Supertiere | Alles wird besser
 Foto: World Photo Press/Atelier Bow WowIn der Berliner Neuen Nationalgalerie ist zur Zeit anlässlich des noch immer laufenden Deutschlandjahrs in Japan die bereits an anderer Stelle erwähnte Ausstellung Berlin-Tokyo/ Tokyo-Berlin zu sehen. Neben viel zu vielen und etwas beliebig zusammengestellten Exponaten aus rund hundert Jahren gegenseitig beeinflusster Kulturgeschichte sowie einigem bonbonfarbigen Blendwerk finden sich auch ein paar sehr hübsche Ausstellungsstücke: Beispielsweise ein Film, in dem der Filmemacher einem gefangenen Tintenfisch Tokio zeigt und ihn mit dessen Bewohnern bekannt macht. Und natürlich das Pet Architecture Museum des Atelier Bow Wow, das diverse Beispiele für Pet Architecture aus dem Tokioter Alltag dokumentiert.
Pets, companion animals of the people, are usually small, humorous and charming. We find what we could call "Pet Architecture", architecture having pet like characteristics, existing in the most unexpected places within the Tokyo city limits, erklären die Bow-Wow-Leute ihre Namenswahl. Das funktioniert so: Wenn zwischen einem Gebäude und dem Bürgersteig noch 60 cm Platz sind, dann baut man seine Fahrradwerkstatt eben in den Massen 0,4 x sehr viele Meter. Hat man hingegen für sein Lagerhaus nur einen ähnlich proportionierten Streifen von Tokio, dann spezialisiert man sich halt auf entsprechendes Verkaufsgut, z.B. sehr lange Rohre. Auch die Behausungen der Obdachlosen in Japan sind im Pet Architecture Museum vertreten.
Und weil Tokio gross und vollgestellt ist, die Grundpreise hoch sind und die Bauaufsicht nachsichtig ist, gibt es schon längst genug dieser winzigen Bauwerke, um damit ein ganzes Buch zu füllen. Sammlungen von Pet Architecture in anderen Städten wurden ebenfalls begonnen, was sehr löblich ist und unbedingt nachgeahmt werden sollte – allerdings darf man die ganze Sache auf gar keinen Fall hiermit verwechseln.
Dieser Beitrag ist ein Update zu Deutsch-Japanische Luftwurzeln II und Furbyhaus.
14.08.2006 | 01:18 | Anderswo | Alles wird besser | Sachen kaufen
 Puttin' the "fun" back in "funeral"Eine klare Vorstellung davon, was im Todesfall mit unseren sterblichen Überresten geschehen soll, gibt es nicht. Allerdings arbeiten hier die Fachleute, anders als beim Thema der Unsterblichen Seele, laufend an neuen Optionen und Verbesserungen. Die Rolle eines Katalysators für Innovationsprozesse im Bestattungsgewerbe scheint dabei Nordrhein-Westfalen einzunehmen, in dessen Grenzen einem das bundesweit breiteste Angebot für die Zeit nach dem Lebensabend offeriert wird. Wer z.B. während der Fussball-WM zu sterben gedachte, konnte sich dank eines Düsseldorfer Bestattungsunternehmens in einer Fussball-Urne zur letzten Ruhe betten lassen. Auch so genannte Streuwiesen gab es in NRW schon lange, bevor man anderenorts auch nur davon zu träumen wagte, nach einer feurigen, vielleicht sogar mit Filmzitaten gespickten Rede, Grossvaters Asche den verhassten drittgradigen Verwandten ins Gesicht zu schleudern.
Vor kurzem schliesslich eröffnete in Düsseldorf der erste Indoor-Friedhof Deutschlands – mit tiefer Decke statt hohem blauen Himmel. Die offizielle Erklärung, im entsprechenden Stadtteil gäbe es keinen konventionellen Friedhof, wohl aber genug leer stehende Kellerräume, mit deren Nutzung man dem Outsourcen von Leichen in andere Bezirke ein Ende setzen könne, scheint vorgeschoben: Denn Tote sind eigentlich vom Aussterben bedroht! Unzählige Plätze auf Friedhöfen stehen frei und die Wirtschaft leidet. Welche Möglichkeit hätte man also, die überflüssige, leere und somit Kosten verursachende Friedhofsfläche lukrativ zu nutzen? Die Zahl der Toten aktiv zu erhöhen wäre unter ethischen Gesichtspunkten nur schwer legitimierbar, und eine Nutzung durch Dienstleistungsunternehmen oder Ähnliches würde die Totenruhe stören. Vermutlich also genau deshalb jetzt alles indoor, mit schalldämmender Doppelverglasung und dicken Wänden. Die Toten nach drinnen in selige Ruhe und auf die Friedhofswiesen dann... hoffentlich keine Wohnräume. Denn Wohnen auf Friedhöfen, das hat sich nicht bewährt.
Dieser Beitrag ist ein Update zu: Urnenwahl
13.08.2006 | 00:58 | Alles wird besser | Fakten und Figuren
 Bild typähnlich (und gemeinfrei)Es ist wahrscheinlich nicht sehr gewagt zu behaupten, dass die Menschheit Bloggern in 10-15 Jahren mit etwa den gleichen gemischten Gefühlen gegenüberstehen wird wie heute Jongleuren im Park. Dabei werden unter der mühselig zusammengebloggten Lawine des jüngsten Erlebnisschrotts leider auch einige Perlen begraben; nur so ist zu erklären, dass eines der besten deutschsprachigen Blogs, vielleicht sogar das beste, nämlich das des leicht neurasthenischen, stets kränkelnden, seine Misserfolge beklagenden, mit der Welt, den Frauen, dem Schreiben, dem Marathonlauf und seinen IKEA-Vorhängen beharrlich hadernden Jochen Schmidt so wenig Beachtung fand. Kann allerdings auch sein, dass es daran lag, dass Schmidt Schmidt heisst und nur alle paar Monate einen neuen Eintrag von mehreren hunderttausend Zeichen Länge freischaltete; und das Unternehmen im Sommer 2005 ganz einstellte.
Schmidts neuer Versuch in Sachen Misserfolg ist das optisch gewohnt anspruchslose Schmidt liest Proust, sozusagen eine Quadratur der Krisis. Mehr oder weniger live sehen wir Schmidt dabei zu, wie er täglich 20 Seiten Proust liest und hofft, nach etwa 180 Tagen fertig damit zu sein.
Schmidt beginnt etwas mäkelig ("Und selbst, wenn es nicht reicht, Proust zu lesen, um Becketts Proust-Essay zu verstehen, wird man zumindest wissen, was Proust geschrieben hat. Zu wissen, was Proust geschrieben hat, ist sicher das Minimalziel einer Proust-Lektüre"), fragt sich, ob am Ende auch der Mörder verraten wird, quält sich mit Zwangsvorstellungen ("Das einzige, was stört, ist die ständig wiederkehrende Zwangsvorstellung, vom Balkon zu springen, mal sieht man sich sitzend, wie im Schwimmbad von der Kante plumpsen, mal wie beim Hochsprung mit einer eleganten Rolle über die Balkonbrüstung hechten") und wird mit der Zeit, wie nicht anders zu erwarten, immer proustähnlicher. Bis seine Lider endgültig auf Halbmast sinken und das Blog von innen mit Kork ausgeschlagen wird, ist es jedoch noch ein weiter Weg (ca. 3000 Seiten), auf dem wir Schmidt von nun an begleiten wollen.
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IN DER RIESENMASCHINE
ORIENTIERUNG
SO GEHT'S:
- Gold und Silber
- Seismologie
- Stand der Gnade
- Neukölln zwecks Distinktionsgewinn
SO NICHT:
- unmoderne Kirchen
- dauernd Kernelprobleme
- Tiere mit F (nicht mehr)
- disjunkte Teilmengen
AUTOMATISCHE KULTURKRITIK
"Wake Wood", David Keating (2011)
Plus: 24, 37, 41, 51, 117, 138, 141 Minus: 15, 35, 38, 190 Gesamt: 3 Punkte
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