Riesenmaschine

24.05.2008 | 16:45 | Alles wird besser | Was fehlt | Essen und Essenzielles

This flesh is my bread


Einmal Hand mit Fuss bitte.
Wer sich in München im buddhistisch-veganen Restaurant Au-Lac verköstigen lässt, kann zur Speise auch ein Freiexemplar des Büchleins "Der Schlüssel zur sofortigen Erleuchtung" der Höchsten Meisterin Ching Hai Wu Shang Shih gereicht bekommen, einer bündigen Einführung in den Veganismus. Auf dem Speisenplan hat man die Auswahl aus verblüffend echt aussehendem und noch verblüffender echt schmeckendem Sojahuhn, aus Sojaente, Sojaschwein, Sojatintenfisch, und vielem mehr. Selbst die geschmorte Haut des überzeugend gefälschten Broilers ist aus rein pflanzlichem Material perfekt nachgebildet, die Ente wirkt wie frisch geschossen und der fleischlose Polyp zappelt vor täuschender Echtheit nahezu noch in seinem eigenen Aufguss. Die Höchste Meisterin lehrt sodann in ihrem Werk: "Ich sehe um mich herum so viel Brutalität gegenüber Tieren. Ihr könnt einkaufen, wisst ihr, ihr könnt aussuchen, was ihr wollt. Ja, ihr könnt vergleichen und mit eurer Weisheit, eurem Intellekt auswählen: 'Oh, dieser hier ist besser!', oder: 'Ich mag diesen mehr'. 'Der sieht schrecklich aus!', 'Oh, dieser – eklig.' [Lachen]" (S. 39f.).

Die strikte Konsequenz aus diesem Übergang von der omnivoren Ernährung zur Metaebene des rein gewächsbasierten Imitats ist das nun gesichtete Menschenfleisch aus Getreide und Brot – Leichenteile, geschmackvoller als die von Gunther von Hagens: Organfetzen, verwesende Schädel, abgetrennte Gliedmassen ... eklig zwar, aber doch entsprechend der von der Höchsten Meisterin geforderten Weisheit rundum bekömmlicher als das echte faulende Fleisch.

Ruben Schneider | Dauerhafter Link | Kommentare (4)


23.05.2008 | 23:28 | Anderswo | Alles wird besser | Was fehlt

Seebestaatung


Manchmal kommt die Hoffnung eben in hässlichem Gewand daher, oder hat das Internet etwa anfangs gut ausgesehen? (Quelle: seasteading.org) (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Der weltweite Mangel an durchdachten und hochwertigen Ländern ist ein von allen Medien ausser der Riesenmaschine vernachlässigtes, ja, totgeschwiegenes Thema. Wie oft haben wir bessere Länder gefordert, Wege dorthin aufgezeigt, Kriterien entworfen und auf die Vor- und Nachteile vorhandener Länder wie Kanada, Island, Chile und diverser Mikronationen und Kondominate hingewiesen. Es hat anscheinend nichts genützt. Auch der angekündigte Aufkauf von Sealand durch Pirate Bay wirkt gescheitert. Aber das soll uns nicht daran hindern, weiterhin jeden neuen Versuch zur Behebung des Problems enthusiastisch zu begrüssen.

Zum Beispiel das Seasteading Institute, von dem wir via Wired erfahren. Vorsitzender Joe Lonsdale kündigt an, man habe vor, den alten Plan einer Länderneugründung zur Abwechslung "in a way that's not crazy" durchzuführen. Schwimmende neue Länder werden irgendwie in den Meeren verankert, und zwar so viele, dass für jeden das passende politische System dabei sein sollte. Patri Friedman, Co-Autor von Seasteading: A Practical Guide to Homesteading the High Seas, erklärt: "Regierungen sind ein Geschäft mit extrem hoher Zugangsschwelle. Man muss praktisch eine Wahl gewinnen oder eine erfolgreiche Revolution hinter sich bringen, um eine neue Regierung auszuprobieren. (...) Und der Lock-in-Effekt ist enorm. Die Leute beschweren sich über ihre Handyverträge, die zwei Jahre laufen, aber überlegen Sie mal, wie mühsam es ist, seine Staatsbürgerschaft zu wechseln." Wir sind also offenbar in guten Händen, die Gründer sind reiche Leute, was soll diesmal schiefgehen?


29.04.2008 | 12:33 | Berlin | Was fehlt

The Shramps – Live!


Von allen ausgedachten Bands und Alben, schätze ich doch am meisten die interessanten. (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Vermutlich hat Jorge Luis Borges in grossem Stil mit dem Quatsch angefangen. Der schickte sein Pseudonym Bustos Domecq ins Rennen, um fingierte Rezensionen fiktiver Bücher und phantasierte Homestories non-existenter Autoren abzuliefern. Auch die Vermischung von Realwelt und Fiktion war eine Spezialität des Argentiniers. Zusammen mit der Mediengestalterin Daniela Burger, die die Covers beisteuerte, hat Dietmar Dath das Prinzip von der Literatur aufs Popbusiness übertragen und unter dem Titel The Shramps mehr als 30 Rezensionen fiktiver Platten, teils real existierender, teils erfundener Bands ersponnen und erdichtet. Die schmerzlich vermisste Band "Tipsi" kommt darin ebenso vor, wie das absehbare aber verzichtbare Guns-'n'-Roses-Album "Chinese Democracy" – Musils Möglichkeitssinn macht Musik. Das ganze war eine sehenswerte Ausstellung, ist jetzt als lesenswerte Dokumentation erschienen und wird heute Abend unter Beteiligung der ebenfalls real existenten Musiker Jens Friebe und Julie Miess im Festsaal Kreuzberg vorgestellt.


09.04.2008 | 19:11 | Nachtleuchtendes | Was fehlt

Nothing funny 'bout that

Als Zwillinge bezeichnet man im biologischen Sinne zwei Personen, die genau gleich aussehen, weil sie aus demselben Ei geschlüpft sind. Wenn man Zwilling hört, denkt man "identisch" oder "zum Verwechseln ählich", und wenn man das nicht denkt, denkt man zusätzlich "zweieiig", aber wer macht das schon, wenn er Zwilling denkt. Astronomen bzw. deren Pressereferenten haben jetzt in einem längeren Prozess den bizarr unähnlichen Zwilling erfunden, eine echte Novität. Im Jahr 2003 hörte man erstmals von einem Zwilling unseres Sonnensystem. Nun schlüpfen Sonnensysteme überhaupt nie aus Eiern, seien wir darum nicht kleinlich, aber dieser Zwilling hier hat einen Jupiter, der seine Sonne, einen Stern namens HD70642, im Abstand von 467 Millionen Kilometer umkreist, oder wie die PR-Mitteilung informiert "nicht sehr verschieden von 778 Millionen Kilometer". Hm, well. 311 Millionen Kilometer verschieden, eine kleine Aberration, zugegeben.


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In den letzten Monaten jedoch vermehren sich die unähnlichen Zwillinge wie die ähnlichen Karnickel. Der Stern 55 Cancri hat einen "erdähnlichen" Planeten, der nicht nur 45mal so schwer ist wie die Erde, sondern ist auch "ein bisschen" näher an seiner Sonne, nämlich circa 80 statt 150 Millionen Kilometer. Hust. Ein bisschen? "Fast ein Zwilling?" Der Erd"zwilling" des Sterns Gliese 581 hat gar einen Abstand von nur gut 10 Millionen Kilometern von seiner Sonne. Schonmal beim Nachhauseweg auf den letzten 140 Millionen Kilometern verhungert?


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Und schliesslich in den letzten Wochen wieder ein Zwilling, diesmal führt die Sonne den sperrigen Namen OGLE-2006-BLG-109L. (Nebenbei: Was ist eigentlich aus den ansprechenden Namen für Himmelsobjekte geworden, sagen wir "Tukan" oder "Ganymed"?) Dieses Mal ist die "Erde" nur halb so weit von ihrer Sonne weg wie die richtige, das heisst 75 Millionen Kilometer weniger. Einerseits sind wir von Astronomen Übertreibungen gewohnt, ich meine, Schwarze Löcher, guter Scherz, aber andererseits erwartet man ein wenig mehr Präzision in der Metaphernauswahl. Wieso gibt es mehr als einen Zwilling der Erde? Was soll diese Besessenheit mit der Ähnlichkeit? Ist Unähnlichkeit nicht eigentlich viel interessanter? Und wie wird man es nennen, wenn man irgendwann tatsächlich eine Kopie des Sonnensystems findet? Superzwilling? Hypererde? Was, wenn es ganz viele davon gibt? Trillionenling? Und übrigens: Saturnmond Titan ist nicht der Zwilling der Erde, beziehungsweise nur in einer Welt, in der ein Tag zwei Wochen lang ist (ein Jahr übrigens auch) und die Temperatur minus 194 Grad beträgt. Das ist nur gute 100 Grad kälter als in der Antarktis. Am Ende leben dort Zwillingspinguine.


23.03.2008 | 14:58 | Was fehlt | In eigener Sache

Zen-Sportberichterstattung


Bei Minute 81 scheint die Welt noch in Ordnung. (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Und wieder mal gibt es einen neuen Journalistenpreis: Den Preis für die beste Onlineticker-Einzelleistung (Sport). Gewonnen wurde er gestern abend von einem namenlosen Mitarbeiter von sportal.de im Rahmen der Berichterstattung vom 3. Spieltag des Playoff-Viertelfinals der DEL. Kurz als Erläuterung: Ein Eishockeyspiel dauert normalerweise 3 mal 20 Minuten, wobei so etwa vier bis fünf Tore fallen. Seit dieser Saison gilt in den DEL-Playoffs die Regel, das anschliessend so viele Verlängerungen à 20 Minuten gespielt werden, bis ein einziges weiteres Tor fällt. Iserlohn und Frankfurt lieferten deshalb am Donnerstag gleich mal ein Rekordspiel, das erst kurz vor Ende der dritten Verlängerung entschieden wurde – was aber gestern abend von den Kölner Haien und den Adler Mannheim locker getoppt wurde. Sie standen insgesamt rund 168 Minuten auf dem Eis, also fast dreimal so lange wie geplant.

Die besondere Leistung besteht nun darin, wie der Ticker sich im Laufe der 108 torlosen Verlängerungsminuten immer weiter vom eigentlichen Spielgeschehen löst und eine ureigene, hochzynische Identität entwickelt. Er wird zu einem Protokoll des Wartens, in gedanklicher Verbundenheit mit Bruno Moravetz und der Berichterstattung von Reif/Jauch vom umgefallenen Tor in Madrid. Nach einer kurzen Phase der Verzweiflung ("Ein Alternativvorschlag. Das nächste Spiel zählt doppelt! Und hier sofortiger Abbruch") besinnt sich der Ticker schnell, und treibt fortan leicht dahin auf den Wellen der Ereignislosigkeit; spielt kurz mit der eigenen Existenz und der Welt an sich, um schliesslich im Fluss völliger Entspannung zu enden – so stellen wir uns Zen-Sportjournalismus im 21. Jahrhundert vor. Der Preis, ein Riesenmaschineshirt nach Wahl, kann bis Ende Juni im Haus der frohen Zukunft eingelöst werden.


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"Road Games", Abner Pastoll (2015)

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Minus: 1, 3, 8, 14, 33, 35, 198, 209
Gesamt: 2 Punkte


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