Riesenmaschine

22.01.2009 | 16:22 | Anderswo | Zeichen und Wunder | Vermutungen über die Welt

Kopf-ab-Pädagogik

Seit ein paar Jahren schon ist praktisch jedes Mittel recht, um die vom Internet- und von Computerspielen abhängige Jugend ins Museum zu prügeln. Im Rahmen der Ausstellung The French Revolution, die noch bis zum 16. März im Hongkonger Historischen Museum läuft, können sich die Museumsbesucher an Durchguckaufstellern wahlweise als Marie Antoinette oder Ludwig der XVI. fotografieren lassen. An zwei Tischen kann man die Napoleonischen Kriege als Brettspiel nachkämpfen, wobei mit grossen Stoffwürfeln gewürfelt wird, und an mehreren Spielkonsolen – sowie hier – darf man als virtueller Revolutionär zur Marseillaise Juwelen zusammenrauben. So weit, so normal wie uninteressant.

Den Höhepunkt der Ausstellung aber bildet eine nachgebaute Guillotine, an der verrohte Internet-Addicts aufgefordert werden: "Try the Guillotine!" Damit der junge Mensch auch zurechtkommt, werden ihm in einem Begleitheft, das sich Educational pamphlet nennt, der Gebrauch und die einzelnen Bauteile der Mordmaschine genau erklärt: "Wooden bed: supporting the criminal in prostrate position to facilitate quick disposal of the body after execution." Zwar hat die Hongkonger Guillotine statt eines scharfen Fallbeils nur eins aus Hartpappe, trotzdem scheint diese Form der Museumspädagogik sehr gut anzukommen: Immerhin steht der digitale Zähler – nicht serienmässig bei den ersten Guillotinen – bereits auf 15.238.

Das ist natürlich ein schöner Erfolg. Fragt sich nur, quo vadis, Museumspädagogik? Eine Ausstellung zu den Atombombenabwürfen auf Nagasaki und Hiroshima? Mit einer Mini-Atombombe im Foyer, die die Aufschrift trägt: "Try the atomic bomb!" Eine Schiessanlage im Bendlerblock mit der Aufforderung:"Versuch den Stauffenberg zu erschiessen!" Eine Flugsimulationscockpit im Nationalen 9/11-Memorial und einem Schild: "Try to hit the towers!" Schon alles in Arbeit? Na, dann.

Christian Y. Schmidt | Dauerhafter Link | Kommentare (4)


21.01.2009 | 02:01 | Berlin | Zeichen und Wunder | Papierrascheln

Subliminal Killer


(Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)

(Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Sah ein Knab' ein Röslein steh'n / Röslein auf der Heide ... Eingedenk dieses Dichterwortes wollen wir einen Moment innehalten vom hektischen Treiben in der Spektakelgesellschaft und ein neues Sub-Genre der Street Art bzw. Urbanen Kalligraphie belobigen, das so subtil, subkutan, ja, subliminal daherkommt, dass es Gefahr läuft, gänzlich unbemerkt zu bleiben. Das raumgreifend Virile und Martialische, welches dem Graffiti-Urahnen noch in strenger Form zueignete, wird darin poetisch-feinfühlig ins Empfindsame transformiert. Auch begegnet man ihm gar nicht auf der Strasse, sondern im Hochregallager der Tempelhofer IKEA-Filiale, beim Zubehör für die PAX-Kleiderschränke. Dort nämlich, tief vergraben in einer Schütte mit KOMPLEMENT-Aufbewahrungsbehältern, 6er-Set, 7,99 €, hat ein gewisser AKTI3 seinen kleinen Tag-Sticker angebracht: als eine Form des homöopathischen Terrorismus im Reich der Zeichen, als konzeptuelle Miniatur über die Kunst des Verschwindens, oder aber als semiotische Flaschenpost aus dem Ghetto der Unterprivilegierten an die neobourgeois-saturierten Nestbauer, die wir sind. So geht IKEA Hacking wirklich.


19.01.2009 | 23:22 | Anderswo | Alles wird besser | Zeichen und Wunder

Höher, breiter, tiefer

Schuld sind letztlich Filippo Brunelleschi, Leon Battista Alberti und ihre Kollegen. Erst führten sie die Fluchtpunktperspektive in Malerei und Architektur ein und dann dauerte es nur noch ein paar Minuten Jahrhunderte bis zum wohl grössten Missverständnis der jüngeren Menschheitsgeschichte: 3D-Videospielen.

Nur mühsam kann sich die Welt nun wieder aus der dreidimensionalen Umklammerung befreien. Kleine versprengte Retrogaming-Widerstandszellen sorgten immerhin dafür, dass die Reine Lehre nie in Vergessenheit geriet, und vertrieben sich ansonsten die Zeit auf bizarren Conventions und mit dem VirtualNES. Und ihre Mühen wurden belohnt: Mit dem im Sommer für die Wii veröffentlichten und technisch exakt auf dem Stand der frühen 90er angesiedelten Jump'n'Run Mega Man 9 und weiteren geplanten Neuerscheinungen wie etwa The Great Giana Sisters fürs Nintendo DS.

Aber nicht nur das. Zusätzlich etablierte sich in den vergangenen Jahren eine neue Generation von 2D-Spielen, die mit weitestgehender Reduktion in Form und Inhalt glänzen konnten. Titel wie Loco Roco, World of Goo, Crayon Physics, Sketch Fighter 4000 oder auch Line Rider zeigten, dass nicht in alle Ewigkeit auf die immer gleiche 8-Bit-Pixeloptik referiert werden muss. Und dass es munter so weitergeht, beweisen die Nominierungen bei der Wahl zu den Spielen des Jahres beim diesjährigen Independent Games Festival (23. bis 27. März, San Francisco, via offworld.com): Feist (oben), Night Game und Blueberry Garden (Mitte) gehören zu den Finalisten und erinnern nicht nur optisch an sehr gute, handgezeichnete Magazinillustrationen, sondern hören sich auch so an, quasi.

Auffällig ist dabei die Häufung von schwedischen Entwicklern, auch das nominierte You Have To Burn The Rope – für Anfänger hier ein umfassender Walkthrough – und das ebenfalls vielversprechend aussehende Walkie Tonky (Riesenkampfroboter! – unten) kommen aus dem wurstförmigen Land im Norden. Einem Land, in dem Dimensionen noch höher besteuert sind als Schnaps und sich nur hochdotierte Tapetendesigner drei auf einmal leisten können. Einem schönen Land.

Dieser Beitrag ist ein Update zu: Manchmal rennen und springen sie wieder


15.01.2009 | 03:51 | Was fehlt | Vermutungen über die Welt

There's probably no Zeitgeist


Foto, Lizenz
Immer wieder in den Schlagzeilen: Gott. Britische Busse transportieren derzeit, wie man praktisch überall nachlesen kann, die Nachricht "There's probably no God" hinaus in die nasskalte Depression des Vereinigten Königreiches. Nun ist es prinzipiell lobenswert, endlich in der Öffentlichkeit metaphysische Debatten auszutragen, denn viel zu lange haben wir dem Primat der Physik gehuldigt. Man mag darüber streiten, ob Busse ein geeignetes Medium für den ontologischen Diskurs sind, aber warum nicht, die einschlägigen Bücher zum Thema lesen ja ohnehin nur 1-5 Personen.

Andererseits muss man sich fragen, warum die neue Welle ausgerechnet mit einer Form des Antirealismus beginnt, die einen Aspekt der Wirklichkeit einfach wegleugnet, ein pessimisistischer und miesepetriger Einstieg. Sollten wir nicht in Zukunft immer mehr Realität haben, statt weniger? Ontologisch beruht die Aussage "There is probably no God" auf einem platten szientistischen Materialismus der Prägung Dawkins, der die Buskampagne darum auch sponsort. Im Zoo der möglichen Theorien über die Natur der Wirklichkeit ist dies allerdings nur eine einzige, wissenschaftshistorisch unbedeutende Spielart.

Relevanter schon wäre die Diskussion des Positivismus ("There may be no bus and no atheism, but what the hell do we know."), beliebt z.B. in der Interpretation der Quantenmechanik, und des dialektischen Materialismus ("There's no God and, surprise, no atheism either. Go fuck yourself."), immerhin eine Weile weltpolitisch äusserst erfolgreich, und im Gegensatz zum Szientismus und Positivismus schön realistisch, dogmatisch und rein. Gefolgt vielleicht vom Konstruktivismus ("There is probably no bus, but let's put some ads on it anyway.") und vielleicht Berkeleys aufklärerischem Idealismus ("There is no atheist bus, just God's idea thereof.") Danach können wir dann zu den topaktuellen Klassikern des Aristotelismus ("There is an atheistic message only if there is a bus.") und des Platonismus ("There is atheism and theism, even if the material Universe ceases to exist.") übergehen. Beide übrigens mit klarer Option auf einen Gott, dem Busse so oder so egal sind. Wahrscheinlich.


13.01.2009 | 19:31 | Sachen kaufen

Die schrumpeligen Fingerkuppen der Christiane F.


Warnhinweis: Einschlafen in der Badewanne kann tödlich sein (Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Der Mohn ist wieder da. Im Foodbereich war er nie ganz weg, und auch Hanf kommt als Back- und Müslizutat wieder. Nur beim Mutterkorn zögert man noch. Aber wie lange noch? Denn während Head- und Smartshops traditionell Wellnessprodukte wie Duftkissen, Raumerfrischer und Räucherwerk anbieten, versuchen nun die Kneipp-Werke – ein Traditionsunternehmen am Puls der Zeit – Badezusatz mit Inhaltsstoffen und Bestandteilen BtM-kontrollierter Pflanzen aufzusexen – für alle, die sich den Alltag bisher noch nicht ausreichend gut wegschäumen konnten. Name und Produktversprechen riechen dabei so wenig subtil nach hidden highs, dass gerade wegen des Warnhinweises "Nicht einnehmen und für Kinder unzugänglich aufbewahren" intravenöse oder auch Wasserpfeifenanwendung nicht ausgeschlossen werden kann.

Der Riesenmaschine Praxistest ergab:
T+0:01: Wasser färbt sich lila. Geruch erinnert an aufgelöste Räucherstäbchen und Omas Veilchenwasser.
T+0:02: Starkes Wärmegefühl beim Einstieg in die Wanne.
T+0:04: Ziemlich entspannt. Gedanken kreisen um die Frage, wieso auf der Umverpackung Klatschmohn abgebildet, in den Inhaltsstoffen jedoch Papaver somniferum gelistet ist. Das ergibt alles keinen Sinn!
T+0:20: Ende des Tests. Fazit: Transdermale treats ähnlich denen von Koffeinshampoo, Biershampoo und Pantene Pro-V. Die Frage, ob und wenn ja wie Drugwipe Tests auf diesen Badezusatz reagieren, verspricht einen interessanten Tag in der Opiumstelle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte.

Natascha Podgornik | Dauerhafter Link | Kommentare (13)


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