04.07.2008 | 14:58 | Anderswo | Sachen kaufen | Vermutungen über die Welt
Der 11. September 2001 war vor allem aus einem Grund im Gedächtnis der Menschheit geblieben: Als der Anfang vom Ende des Passagierflugbetriebs. War den Fluggästen zuvor bis auf die Mitfuhr von Bomben und Schusswaffen im Prinzip alles erlaubt, hagelte es danach Restriktionen: Erst wurden Scheren und andere spitze Gegenstände verboten (gefühlt 2002), danach Flüssigkeiten jeglicher Art (2006), später Löffel (2009), Papier (2011), Blackberrys (2012), Wollkleidung (2014), Göffel (2014), Obst (2017), usw. (2021) – bis es den Leuten irgendwann zu dämlich war, nur mit extraweichen Linoleumbademänteln bekleidet ins Flugzeug zu dürfen, und sie fortan wieder mit dem Zug in den Urlaub fuhren.
Die Bahngesellschaften hatten diesen Wettbewerbsvorteil freilich schon früh erkannt und seitdem behutsam zum Markenkernwert aufgebaut. Im Bild ein Pilotprojekt, das 2008 auf dem Osnabrücker Bahnhof gestartet wurde: Ein Multifunktionsautomat (baugleich mit diesem Modell), in dem die Bahnkunden günstige und sofort einsetzbare Teppichmesser kaufen können.
Dieser Beitrag ist ein Update zu: Schwerter zu Flugscharen
03.07.2008 | 20:18 | Anderswo | Sachen anziehen
Die Pubertät ist ein Elend, und auch das junge Erwachsenendasein kein Vergnügen, selbst wenn sich beides auf einer, zumindest in Reiseprospekten als solche apostrophierten Trauminsel wie Bali abspielt. Das muss jedenfalls aus der Mode geschlossen werden, die ein nicht unerhebliches Segment der balinesischen Jugend bevorzugt trägt. Diese Jugend schmückt sich gerne mit Klamotten, die Skulls, Bones und Knarren zieren und mit denen man sich irgendwo zwischen Gruft, Hass, Rockabilly und Punk positioniert. Verkauft werden die Jugendtrachten in Boutiquen, die sich seltsamerweise "Bistro" nennen, obwohl es hier noch nicht einmal ein trockenes Baguette zu essen gibt. Diese Läden heissen "Traffic", "URock" oder "BlackID" und sind schon von weitem an ihren in der Manier von Achtziger-Jahre-Fanzines gestalteten Firmenschildern und markigen Claims wie "Created For Your Extreme Lifestyle" oder "Everyday is hell" zu erkennen. Tatsächlich: Jeden Tag Sonne, Strand und Nightlife – gibt es Schlimmeres?
Besonders zugespitzt repräsentiert die kleine Kleiderbistro-Kette Suicide Glam diesen Hang der balinesischen Jugend zum Morbiden. Der erste Laden wurde vor sieben Jahren von zwei Jungs in einer Garage in Balis Hauptstadt Denpasar gegründet. Heute produzieren 25 Mitarbeiter Kleidung für das lebensmüde, aber lustig auftretende Label ("Dressed like no tomorrow" / "To hell with your metrosexual crap"). Inzwischen wird der Selbstmordglanz auch in die ganze Welt exportiert; ausserdem gibt es neben einer Handansichanlegen-Filiale im nahe gelegenen Australien schon längere Zeit einen deutschen Laden. Der steht in einer Stadt, in der es ähnlich trostlos und suizidal zugeht wie am Strand von Bali: Würzburg nämlich. Seltsam: Wir hätten auf Göttingen getippt, die Kokosnuss unter den deutschen Städten.
02.07.2008 | 13:53 | Zeichen und Wunder
 Uh oh. (Foto: Olaf) (Lizenz)Emotional ist Amerika ja weiter – statt verkrampft reserviert alteuropäisch kann man zwischen Portland und Jacksonville die Liebe zum Vaterland und die Wut auf andere Autofahrer unumwunden herauslassen. Klingt das wie das Aufbacken steinharter Klischeebrötchen? Dann ist es jetzt an der Zeit, wissenschaftliche Belege dazuzubuttern.
William Slzemko von der Colorado State University hat eine Korrelation zwischen Aufklebern am Heck eines Autos und aggressivem Verhalten im Strassenverkehr gezeigt. Nun sieht man derartige Dekorationen in Deutschland immer seltener, die Zahl der Aufkleber ist seit den 80ern stetig gesunken. Wir dürfen sie also als viel kleiner in den USA annehmen, und können somit schliessen, dass das Aggressionspotential hier viel kleiner ist. Natürlich gibt es unrühmliche Ausnahmen in Aufkleber-Nischen, vor denen man sich tunlichst in Acht nehmen sollte. Die zwischenzeitliche Beflaggung deutscher Automobile, die man laut Slzemko ebenfalls zur Autoindividualisierung zählen könnte, dürfen wir als vorübergehend ignorieren; die Entsorgung der Wimpel ist hier auch weniger aufwändig als drüben.
Aber wo fahren all die wütenden Amerikaner hin? Andere US-Forscher haben das Verhalten beim Fussballspiel der Kinder mit Aggressivität im Strassenverkehr in Verbindung gebracht. Wie folgern also weiter: In Deutschland fährt man sicherer, weil niemand seine Kinder zum Fussballspielen bringt.
Dieser Beitrag ist ein Update zu: Hysterie und Übertreibung
30.06.2008 | 23:19 | Berlin | Alles wird besser
 Abbrüstung jetzt! (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)Ist nicht das Unfertige jedem von uns eine Mahnung, dass das Leben eine Reise ist ohne Ziel? Nein, ist es natürlich nicht, dieser Spruch ist einem ausgedachten ökumenischen Kalenderblatt entnommen. Das Unfertige ist vielmehr in der Kultur das, was die Mutation in der Biologie ist. Irgendwann ergibt es sich halt aus irgendeinem Grund, erst denkt man so "Mist", dann wird es ausprobiert und in einem von zehn Fällen kommt heraus, dass es auch so geht, vielleicht sogar besser. In der Biologie sind so zufällig das Auge, bedecktsamende Farnarten und wohl auch der Pimmel entstanden. In der Kultur dagegen hat das Unfertige die Erkenntnis vorgebracht, dass es auch ohne angenähten Kragen geht und sogar ganz ohne Kragen. Dass Heissgetränke auch ohne Untertasse getrunken werden können und dass Autos nicht unbedingt ein Dach brauchen.
Das Unfertige bringt uns also weiter, und zwar dorthin, wo durch Verzicht das Wesentliche deutlich wird. In einer der zahlreichen indischen Mythologien gilt die Besitzlosigkeit, die Loslösung von allen irdischen Gütern als Ideal. Und auch im Westen kennen wir den gesellschaftlichen Grosstrend zur Besitzlosigkeit der Menschen einerseits (wie im aktuellen Armutsbericht eindrucksvoll bestätigt wird) und zur Körperlosigkeit der Dinge andererseits (wie die allgemeine Verschiebung von der Hardware zur Software zeigt, siehe iPhone-Tastatur).
So ist es kein Wunder, dass die Abkehr vom Dinglichen nicht haltmacht vor der grossen, alten Dame der Weltgestaltung, der Architektur, obwohl epochale Zyklen etwa im Netz allenfalls Stunden dauern, während die Architektur wie ein Wal am Strand ruht und sich nur langsam bewegt, wenn nicht gesprengt wird. Stuck, anderthalb Meter lichte Höhe, Küchentüren und Bodenbeläge aus Holz lässt man beim Gebäudebau schon länger weg und nun, wie auf der Fotografie zu erkennen, auch Balkongeländer. Und warum auch nicht? Ist nicht ein Geländer letztlich nur der trügerische Schein eines Schutzes, manchmal sogar regelrecht gefährlich?
Vielleicht. Die Gäste dieses Hostels in Berlin Prenzlauer Berg, das schon mal mit einem Fassadenexperiment in der Fassadenwelt für Aufsehen gesorgt hat, werden es im Selbstversuch erproben können. Vermutlich erweist sich das Geländer als ebenso schadlos weglassbar wie Bordsteine.
Dieser Beitrag ist ein Update zu: Fassadeure
30.06.2008 | 03:08 | Was fehlt
 Foto: robotpolisher / Lizenz Alle glücklichen Fussballfans gleichen einander, aber jeder unglückliche Fussballfan ist auf seine eigene Weise unglücklich. Die tausend Gesichter der Trauer werden im Fernsehen wie in der Realität zu wenig gewürdigt, dabei winkten hier neue Absatzfelder für Gross- und Einzelhandel. Wie schön und interessant wären doch Trauerkorsos, bei denen im Auto still geschluchzt und mit leisen Spezialgeräten traurige Geräusche gemacht würden! Statt der Kudamm-Äquivalente könnten dazu unspektakuläre Ausfallstrassen in Industriegebieten verwendet werden, wenn gewährleistet ist, dass dort Kamerateams warten. Neue Flaggen wären in gebrauchsfertiger Halbmastversion auf den Markt zu bringen, vorausschauende Fans könnten sich für alle Fälle mit Jubel- und Trauerzubehör eindecken, während Fussballfüchsen die Option offensteht, ausschliesslich Trauerware zu erwerben und so das Schicksal zu foppen. Sobald der Markt erneut gesättigt ist, also ca. 2011, folgt dann Zubehör für Unentschieden.
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IN DER RIESENMASCHINE
ORIENTIERUNG
SO GEHT'S:
- selbstreinigende Ohren
- am Ingwer ziehen
- Dekra-Check für Gebrauchte
- Badelatschen nach Athen tragen
SO NICHT:
- Drogen (manche)
- beim Reversi 1:63 verlieren
- Lidl-Pferdedecke (kratzt)
- Kärcher-Bandenwerbung in Pariser Fussballstadien
AUTOMATISCHE KULTURKRITIK
"Indiana Jones and the Kingdom of the Crystal Skull", Steven Spielberg (2008)
Plus: 15, 19, 69, 96, 105, 106 Minus: 8, 11, 37 doppelt, 46, 116, 118, 122, 140 Gesamt: -3 Punkte
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