Riesenmaschine

27.09.2006 | 21:36 | Essen und Essenzielles

Haarweibchen


(Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
Panzerbeeren sind sie alle. Also Gurken, Melonen und Kürbisse, eine Familie. Und wenn man sie immer kleiner und kompakter züchtet, gleichen sich auch ihre Geschmäcker immer mehr an und werden ununterscheidbar, so als ob das Konzentrat alle diversifizierenden Geschmäcker auslagert, um sich auf die genetischen Wurzeln, das Wesentliche zu konzentrieren.
Die jetzt verstärkt überall (ausser in Berlin) auf den Märkten auftauchende Melothria, auch Haarweibchen genannt, hat die Grösse einer Erbse, sieht aus wie eine Melone, schmeckt aber wie eine Gurke. Und wenn man sich ganz besonders anstrengt oder eine Sumpfmeise bzw. Sandbiene ist, kann man sogar den Geschmack des Abtreibungsmittels Zaunrübe erkennen.

Dieser Beitrag ist ein Update zu: Wer hat Angst vor der schwarzen Möhre?

Tex Rubinowitz | Dauerhafter Link


27.09.2006 | 16:16 | Anderswo | Alles wird schlechter | Sachen anziehen | Vermutungen über die Welt

Figarau, Figarau, Figarau

Im Weltbrandingskrieg zwischen China und dem Rest der Welt kämpft das chinesische Modehaus La Vico mit besonders raffinierten Waffen: Es bedient sich nämlich auch des erst kürzlich hier entdeckten Louis-Brandings, allerdings ganz ohne Louis. Dafür ist sein Logo so dicht an dem Original-Vuitton-LV dran wie kein anderes. Ob das nun Fälschen, ohne abzukupfern ist oder eher Abkupfern, ohne zu fälschen, müssten eigentlich Experten entscheiden. Doch angesichts der chinesischen Guerilla-Markenflut sind die längst stiften gegangen.

So kann sich neben "Fashion La Vico" auch Yves Figarau anschicken, die Welt zu erobern. Die diversen Anziehsachen der Firma mit dem erfreulich schwulen Namen werden zwar in Shenzhen bei Hongkong zusammengeschneidert. Trotzdem steht "Paris" unter dem Firmennamen und Chefdesigner Zhong Wei erklärt: "Wir sind eine europäische Marke." Wer so entschieden die Realität uminterpretiert, der wird sich auf Dauer mit Halbheiten nicht zufrieden geben. Hat China erst mal den Weltbrandingskrieg gewonnen, dann wird auf Druck der Figarau-Bosse auch im Westen alles (eine Mozartoper beispielsweise, eine führende französische Zeitung oder ein Bernhard Brink-Song) richtig geschrieben werden. Es soll eben nicht nur hinten stimmen, sondern auch vorne. Paris aber heisst zu diesem Zeitpunkt längst Shenzhen.

Dieser Beitrag ist ein Update zu: Der Untergang von St. Louis

Christian Y. Schmidt | Dauerhafter Link


27.09.2006 | 05:55 | Gekaufte bezahlte Anzeige

Das neue System der Dinge


(Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
"Die Wohnung, das Milieu, die Gegenstände, mit denen sich ein Mensch umgibt, verraten fast alles über ihn," bemerkte Jean Baudrillard schon vor knapp 40 Jahren in Das System der Dinge: "Aus den neuesten Entwicklungen, den raffinierten technischen Erfindungen, aus den Eigenheiten und Zyklen der verschiedenen Moden sind die geheimen Wünsche der Zeitgenossen herauszulesen." Die durchschnittliche Zahl der Gegenstände in privaten Haushalten ist seither auf über 10.000 angestiegen. Vieles davon ist Schrott. Nicht weil es per se Schrott wäre, sondern weil es schlicht das Falsche ist, nicht zu uns passt, nicht mit unserem Leben kompatibel ist. Auch im Konsum schlummert, wie Michel de Certeau in "Die Kunst des Handelns" feststellt, ein Akt der Produktion. Allerdings wird diese Leistung selten anerkannt und nirgendwo unterrichtet. "Der protestantische Kapitalismus hat immer nur die Geschicklichkeit der Produktion kultiviert," schreibt Norbert Bolz in "Das konsumistische Manifest": "die consumption skills sind darüber verkümmert." So muss man es sehen: Es sind nicht schlechter Geschmack und Geistlosigkeit, die Menschen stets Schrott oder das Falsche kaufen lassen, sondern schlicht fehlende consumption skills.

Aber vielleicht bricht ja bald eine neue Ära des sachgerechten, sinnvollen Individualkonsums an – und zwar dank Internet. "The Long Tail" nennt Wired-Chefredakteur Chris Anderson das lange, flache Ende der Angebotskurve und die unendliche Sortimentstiefe, die in Online-Shops im Gegensatz zum stationären Einzelhandel anzutreffen ist, dort für einen zunehmenden Teil der Umsätze sorgt und laut Anderson eine Umstellung der gesamten Kultur von "hitgetrieben" auf "nischengetrieben" bewirken könnte: "Die Angebotsfülle lässt uns von Schnäppchenjägern, die gängige Marken- oder No-Name-Ware kaufen, zu Mini-Connaisseuren werden, indem wir unseren Geschmack mit Tausenden von kleinen Extras veredeln, die uns von anderen unterscheiden," schreibt er im Buch zum Blog zum meistgelesenen Wired-Artikel aller Zeiten. Allerdings funktionierte der "Long Tail" bislang vorwiegend bei digitalen Produkten und Zwitterwesen wie Büchern, während die Internetsuche nach physischen Produkten fragmentarisch und oft frustrierend blieb.

Seit heute gibt es die Portal-Seite DoorOne.de, die angetreten ist, die Produktsuche im Internet auf eine neue Ebene zu heben. Im Maschinenraum arbeitet eine Produktdatenbank mit Detailinformationen zu mehr als fünf Millionen Produkten von mehr als tausend Händlern. An Deck ist alles hübsch aufgeräumt und intuitiv zu bedienen. Neben der standardgemässen Preisvergleichs-Funktionalität liefert sie vor allem eines: Anleitung und Hilfestellung zum richtigen Konsum auch in abseitigen und entlegenen Nischensegmenten. In einer bis zum Jahresende laufenden Kooperation mit DoorOne.de wird Riesenmaschine sich im wöchentlichen Takt eine Produktkategorie vornehmen und im Selbstversuch testen und erforschen. Vielleicht gelingt es auf diese Weise, etwas über unsere geheimen Wünsche (s.o.) herauszubekommen.


26.09.2006 | 23:23 | Supertiere | Vermutungen über die Welt

Wettbewerbsvorteil Schnabeltier

Arbeitsmarkt, du ungerechter: Einerseits gibt es Heerscharen von Bäckermeistern und Sozialwissenschaftlern, die auf den Strassen dieses Landes dahinvegetieren, anderseits herrscht in manchen Berufsfeldern eklatanter Fachkräftemangel. Applikationsspezialisten für Titration werden beispielsweise so händeringend gesucht, dass sich eigens Firmen gegründet haben, in denen zahllose frühere Bäckermeister mit nichts anderem beschäftigt sind, als Titrationsspezialisten ausfindig zu machen.

Um die Konkurrenz auszustechen, ist dabei jedes Mittel recht. Zu besonders perfiden Tricks greift die Schweizer P.M.S.: Am rechten Rand der unten abgebildeten Stellenanzeige hat sie deutlich sichtbar ein niedliches Schnabeltier angebracht. Einfach nur so. Als Eyecatcher. Mit Titration hat das natürlich nichts zu tun.
Aber was so herum funktioniert, klappt sicherlich auch in die andere Richtung. Ein heisser Tipp für alle Arbeitssuchenden: Bei der nächsten Bewerbung statt eines eigenen Fotos einfach mal das Bild eines Nagetiers beilegen.


Das Schnabeltierfoto ist zufälligerweise das gleiche wie in der Wikipedia (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)


26.09.2006 | 15:36 | Anderswo | Nachtleuchtendes | Alles wird besser

Schattenboxen mit dem Selbst


Beware the böser Schatten aus der Lederliege, dear Leser. (Abbildung: Nature) (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
Julian Jaynes erfreute vor Jahr und Tag Fachwelt und Laienhasen mit einer angenehm verquatschten Theorie, wonach das menschliche Bewusstsein zuerst als Götterstimmenhalluzination auf den Plan getreten sei, um sich dann im Zuge seiner Zivilisierung ins Kopfinnere zurückzuziehen und subtiler zu arbeiten. Jaynes datierte diesen Vorgang in seinem schönen Werk "The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind" auf die Zeit zwischen der Abfassung der Ilias und der Odyssee, in einem textexegetischen Galopp, der Velikovsky alle Ehre gemacht hätte.

Die Schizophrenie, zu deren Krankheitsbildern das Hören von Stimmen unwiderstehlicher Argumentationsmacht gehört, rechnete Jaynes mit unwiderstehlicher Argumentationsmacht zu den Überbleibseln dieses psychischen Frühmenschentums, als externalisierte Reflektionsfähigkeit. Wenig überraschend setzte es Kollegenschelte für Jaynes, der ein Sakrileg im Tempel der modernen Wissenschaft begangen hatte, indem er Spekulationen, die sich nicht nach akzeptierten Standards belegen liessen, nicht wegwarf, sondern dem Pöbel vortrug. Pfui, Herr Jaynes, pfui und nochmal pfui.

Mit grossem Interesse hätte der zu Unrecht Geschmähte (aber auch durchaus Geschätzte), der vor neun Jahren starb, vermutlich gelesen, dass Hirnforschern es jetzt durch Stimulieren einer bestimmten Hirnstelle gelang, die Illusion einer unfreundlichen Schattenperson zu erzeugen, die als direktes Abbild der Versuchspersonen hinter ihnen stand und sie piesackte. Nicht unbedingt, weil diese direkte Verbindung zwischen Hirnsubstanz und komplexen Halluzinationen seinen gewagten Thesen mehr Gewicht gäbe, als vielmehr weil die Tatsache ihrer Existenz uns Einblicke erlaubt in die komplexen Prozesse menschlicher Selbstwahrnehmung. Und wer weiss findet sich auch bald noch das Hirnzentrum, das erst besinnungslos dem Zorn des Achilles lauschte, und sich dann selbst reflektierend die Taten eines Vielgewanderten singen machte: das homerische Hirn.


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Gesamt: 6 Punkte


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