Riesenmaschine

24.09.2006 | 21:58 | Essen und Essenzielles

Der Doktor und das liebe Kind


Medizin muss nicht bitter sein (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
Wie fern liegt die Zeit, als man ein Wirtschaftsimperium begründen konnte, mit nichts als der Idee, Backpulver in praktisch portionierten Tütchen anzubieten? Anscheinend hatte die Konkurrenz seit Jahrhunderten geschlafen. "Das ist so praktisch", war das höchste Lob, das man als Kind für eine familiäre Neuerwerbung aussprach, z.B. Geräte mit Saugnäpfen am Boden, oder Verschlüsse, die gleichzeitig als Griff dienten. Grob gesagt, hatte alles, was wir aus dem Westen bekamen, praktische Seiten, z.B. Teppichmesser, deren Klinge man durch Abbrechen erneuerte (wozu man praktischerweise das abnehmbare, geschlitzte Ende vom Griff nutzen konnte) oder Lenorflaschen mit Griff (der nicht etwa umständlich angebracht, sondern Teil der Flasche war.) Praktische Ideen zu haben kostete nichts, der Osten hatte eigentlich keine Ausrede.

Der Bereich, in dem man praktische Ausrüstung braucht, war neben Militär und Tourismus, die ja beide fliessend ineinander übergehen, stets die Küche. Irgendwie träumt man ja immer noch von einem Haushalt, den man vollständig durch das Ziehen an einer Schnur bedienen kann, das wäre praktisch. Im Westen war zumindest Kochen schon ein Kinderspiel, weil sich durch das lustvolle Zusammenschütten der wundervoll praktischen Zutaten immer etwas feines ergab, oft genug etwas besseres, als man vorgehabt hatte. Und Dr. Oetkers Produkte waren nicht nur praktisch, sondern flössten einem tiefes Vertrauen ein. Denn wer könnte es besser mit einem meinen als ein Doktor? Das Logo mit dem Profil einer Hausfrau, die meiner Oma glich, wie wahrscheinlich der jedes anderen auch, tat sein übriges. Hier war die klassische Arbeitsteilung der menschlichen Gesellschaft Symbol geworden: seit es Küchen gibt, haben Männer ihre Frauen darin schuften sehen, und ihr schlechtes Gewissen mit Tüfteleien beruhigt, die den Frauen die Arbeit erleichtern sollten. Die Frau kocht, und der Mann räumt ihr mit seinem Ingenium die Steine aus dem Weg. Und wenn dieser Mann auch noch ein Doktor ist, rückt die Utopie, dass eines Tages aus Nahrung Medizin wird, in greifbare Nähe.

Dieser Beitrag ist ein Update zu: Kackpulver


24.09.2006 | 16:34 | Sachen kaufen

Waschklebeexperimente


(Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
Der Henkelkonzern ist Marktführer bei Klebstoffen, Waschmitteln, Kosmetik und Körperpflege; alliterative Markenprodukte wie Pattex, Persil, Pril, Pritt und Perwoll gehören zum Angebotsspektrum. Henkel-Klebstoffprodukte findet man sowohl in der Längsnaht von Zigaretten als auch im Spaceshuttle. Und jetzt auch im Waschpulver, im Weissen Riesen (gehört ebenfalls zur Produktpalette) ist ab sofort ein Pritt Klebestift. Warum? Weil man gerade einen Überschuss im Hause hatte, dessen Ablaufdatum demnächst naht, und man ihn so leichter verramschen kann vermutlich. Wenn jetzt z.B. der Weisse Riese selbst gerade eine Stagnation bei den Verkäufen erleben würde, werden sie wahrscheinlich das Pulver auch einem anderen Produkt beifügen, aus alter Tradition einem Klebestift vielleicht. Aber warum nicht gleich einem anderen Waschpulver beigeben? Waschpulver zu Waschpulver, das verhindert dann auch dumme Fragen, was denn ein Klebestift mit Waschpulver zu tun hat.

Allerdings wird dieses pleonastische Huckepackprinzip bereits etwas länger praktiziert, nur ist das offenbar keinem aufgefallen: Das ursprünglich als Gardinenbleichmittel entwickelte Henkelprodukt Oxi Energie wird ebenfalls parasitär dem Weissen Riesen beigegeben. Das scheint also eine Art Sondermüllsammelstelle im Hause Henkel zu sein. Wie der Überraschungseiereffekt auch zur Botschaft werden kann, beweist der monomanische Musiker/Produzent Steve Albini, indem er allen Platten seiner Gruppe Shellac, die auf wichtigtuenden 180g Vinyl veröffentlicht werden, sozusagen als Sicherheitskopie eine unbeschriftete CD als "Bonus" beiliegt, weil er sie für ein minderwertiges Medium hält.

Tex Rubinowitz | Dauerhafter Link | Kommentare (1)


24.09.2006 | 02:46 | Supertiere | Vermutungen über die Welt

schall.de und rauch.com


Selbst gebrauchte Post it-Zettel gehen weg wie nichts (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
Dafür, wie man heisst, kann man nichts; Schuld haben die Eltern. Nicht so bei Websites. In den Charts der teuersten Domainnamen findet man die Alexanders, Maries, Maximilians und Sofies des Web. Mit dem Unterschied, dass es im Web – Name plus TLD – nur einen geben darf. Web ist wie Highlander.

Unter den Web-Monaden, keine Überraschung, führt sex.com mit 12.000.000 $. Busen.de brachte es auf 40.000 €. Auf den selben Betrag kam allerdings auch ich.de. Ob es dort um Narzissmus oder Masturbation geht, erfährt nur, wer das Passwort hat – Solipsismus virtuell. Dem zeugungsfernen Sex folgen, wie Quanten miteinander verschränkt, die Gesund- und die Krankheit. Logisch, Lachen ist auch gesund, ausser man ist ein Bär oder auf Koks, dann wird es krank. Auf lachen.de steht: "dein name@lachen.de – leider können wir diesen Dienst nicht mehr anbieten." Es ist eine fremde und seltsame Welt.

Doch die Tiere, was ist mit den lieben Tieren? Unschuldig oder grundverdorben doch wenigstens sie? Aber weder führt die geile Sau die Geldcharts an, noch kommen die niedlichen Tierlein auf einen knusprigen Zweig – für lamm.de, hamster.de und fohlen.de wurden vor Jahren nur 1.000 bis 2.000 Mark bezahlt. Internet ist hingegen Insektenland: Es führen zecken.de und bluebee.com. Newcomer des Monats ist prayingmantis.net mit 1.650 $. Die Gottesanbeterin? Hat die Insekteninflation damit zu tun, dass sich die Sechsfüssler wie die Karnickel vermehren? Dafür sprächen die heretischen Achtfüssler, siehe schwarze-witwe.de, eine Adresse hinter der sich die Isolierernews verstecken, die den Drahti promoten, den altbösen Hagestolz.

Doch vielleicht birgt all das einen Hoffnungsschimmer? Liesse sich nicht dem Kindermangel beikommen, liesse man den Kindernamensverkauf zu? First come, first served: Wie im Internet wäre jede Nachnamen- / Vornamenkombination nur exakt einmal erlaubt. Die Armen würden, wie früher, vieleviele Kinder bekommen, in der Hoffnung, dass sich der Name nur eines aus der Schar einmal gewinnbringend verkaufen liesse, neue Ökonomie, Babyboom 2.0. Und Schirrmacher bliebe auf seinen Büchern hocken.

Martin Bartholmy | Dauerhafter Link | Kommentare (7)


23.09.2006 | 13:11 | Anderswo | Zeichen und Wunder

Schnapstor


Nach Ansicht des Gemeindepräsidenten kann man über Kunst immer geteilter Meinung sein. Bild: Christoph Rösch, NAIRS
Samnaun ist ein kleines Nest im östlichsten Zipfel der Schweiz, fast schon in Italien, praktisch schon in Österreich. Alleinstellungsmerkmal Samnauns ist eine Eigenschaft, die es lediglich mit internationalen Flughäfen teilen muss: es ist zollfreies Gebiet. Nur über einige Passstrassen zu erreichen, pflegte Samnaun jahrhundertelang engere Handelsbeziehungen zum nahen Tirol als zur Restschweiz. Mit der Zentralisation des Zollwesens (1848) verlor Samnaun seine wichtigsten Handelspartner und Einnahmequellen, darum wurde es aus dem Schweizerischen Zollgebiet ausgenommen und war fortan zollfreies Gebiet. Geplant war, diesen Status wieder aufzuheben, sobald Samnaun mit einer ordentlichen Strasse mit der Schweiz verbunden sei. 1912 war dies soweit, doch Samnaun blieb zollfrei. Bis heute – und so ist das Dorf heute eine Art bewohnter, hässlicher Supermarkt für Touristen, die zum Schnapskauf anreisen.

Roman Signer hingegen ist ein Schweizer Künstler, der eigensinnig, humorvoll und mit einem untrüglichen Gespür für die Poesie von physikalischen Experimenten seit Jahren auf mit Wasser gefüllte Fässer schiesst, Farbe oder Schnee explodieren, Stühle rumfliegen, Sand rieseln, Modellhubschrauber abstürzen oder einfach Dinge in Dinge rollen lässt. Meist spielen Gummistiefel, Fässer, Raketen, Waffen, Kajaks oder Schläuche eine Hauptrolle; Lawinen, Staumauern und Vulkanausbrüche stehen Pate. Signers Arbeiten mögen manchen sinnlos erscheinen, als anstössig oder störend wurden sie selten empfunden.

Dies mag der Grund gewesen sein, dass der Gemeinderat von Samnaun einen bescheidenen Beitrag von 2000 Schweizerfranken versprach, als die Kulturstiftung 'Nairs' anfragte, ob im Rahmen des Projekts transit.engiadina eine skulpturale Arbeit von Signer am Dorfeingang installiert werden könne. Samnaun erwartete allenfalls ein paar blaue Fässer oder rote Kanus, stattdessen bekam man eine Interpretation eines mittelalterlichen Stadttors in Form einer Stahlkonstruktion, auf der 59 Schnapsflaschen angeordnet waren. Unschwer zu erraten, dass die Samnauner damit nicht glücklich wurden. Wie dieses Protokoll – das übrigens eine hübsche kleine Posse um die Zusammensetzung des Gemeinderats (mehr als 50% Jenals, ergänzt von einigen Zeggs) sowie interessante Informationen zu Lawinensprengmasten enthält – beweist, wurde die 'Schnapstor' geheissene Skulptur als 'störend' und 'billige Werbung für Samnaun' empfunden. Einige Zeit später war das Tor einen halben Meter höher und mit einem grossen Werbebanner der Gemeinde versehen, sodass die Werbung zumindest nicht mehr billig und die Schnapsflaschen kaum sichtbar waren. Nairs und Signer intervenierten gerichtlich und Samnaun musste das Schnapstor zähneknirschend in den Originalzustand zurückbauen.

Kürzlich nun löst ein Bagger einer regionalen Baufirma das Samnauner Problem, indem er das Tor rammte. Der Gemeinderat liess verlauten, natürlich sei dies ein bedauerlicher Unfall, der aber korrekt gemeldet worden sei, von Absicht keine Spur aber leider sei die Installation nicht mehr zu retten, überhaupt, die Sicherheit, man habe sicher Verständnis. Gut wenigstens, dass der Gemeinderat die versprochenen 2000 Franken nie bezahlt hat.


23.09.2006 | 04:58 | Anderswo

Zäher Wille, Frohe Arbeit


Auch Bayern sehnt sich (mit Zunge) (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
Im ewig, wenn auch nicht immer vollkommen grundlos, unterschätzten Mannheim wird nicht herumgeflennt. Hier lebt man, trotz rechtwinkliger Auslage vor allem im Dreieck aus Disziplin, Dialekt und Hoffnung. Psychonomenklatorisch konsequent werden die freudlosen Fernschachanschriften der Innenstadt (N3,4) denn auch weiträumig von Verlangen und Optimismus umschmeichelt: Da treffen möblierte Sehnsüchte (Dänischer Tisch 1, Wasserbett 8) auf vermisste Tugenden (Zäher Wille 7, Frohe Arbeit 11, Frischer Mut 22) und manch einer findet die eigene Biographie (Zuflucht 1, Neues Leben 17, Starke Hoffnung 7, Kleiner Anfang 12, Eigene Scholle 5, Grosse Ausdauer 4, Guter Fortschritt 2a) in einem einzigen Spaziergang penibel erfasst.

Via Stadtplan huldigt man darüber hinaus gekonnt jenen Dingen, die in der rätselhaften Stadt am Rhein besonders geschätzt werden (Freie Luft 6, Regenbogen 2b, Sonnenschein 4), nicht zuletzt, weil das benachbarte Ludwigshafen (Sodastr., Braunkohlenstr., Im Kappes) ohne Unterlass industrielle Dominanz über den Rhein hüstelt. Kein Wunder, dass man im ebenfalls nah gelegenen Heidelberg (Oberer Fauler Pelz 2, Unterer Fauler Pelz 7) einigermassen fieberhaft am Ausbau des öffentlichen Nahverkehrsnetzes arbeitet. Obwohl. Zu Fuss ins vorbildlich ausgeschilderte Mannheim zu pilgern wäre nicht nur preiswerter, sondern auch angemessen.


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