Riesenmaschine

29.09.2006 | 14:56 | Alles wird schlechter | Papierrascheln

Aber die Billyregale hat er gebaut


(Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
Es gab eine Zeit, da war der IKEA-Katalog ein Kleinod in der Kunst des Gebrauchstexts. Okay, Kunst ist vielleicht eine etwas steile Ansage, aber man hatte 300 fluffig geschriebe Seiten vor sich, angenehm unterhaltsame Wortspiele, kleine Gags mit den eigenen Produktnamen. Der Job Werbetexter war noch verhältnismässig neu im Volksbildungsverständnis und eigentlich erst mit der genialen Anzeige "schreIBMaschinen" für den nachmaligen Computerhersteller ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Der IKEA-Katalog sagte dem Volk, "Ach sieh, Werbetext muss nicht öde oder schmierig oder beides sein, er kann auch ganz einfach okay oder sogar gut sein".

Inzwischen ist das anders. Mangelndes Geschichtsbewusstsein kann man niemandem vorwerfen. Totaler Quatsch, mangelndes Geschichtsbewusstsein kann man jedem vorwerfen, der es hat. Denjenigen, die beruflich mit Sprache umgehen, muss man es vorwerfen. Der IKEA-Katalog wurde von mindestens fünf Textern geschrieben, er ist durch die Augen von mindestens drei Agenturvorgesetzten dieser Texter gegangen, eine grössere Anzahl von IKEA-Marketingverantwortlichen hat jedes Wort gelesen und sich über die Hälfte beschwert, anschliessend haben mindestens zwei externe Korrektoren ihn durchgelesen, man kann blind jede Wette eingehen, dass kein einziger Kommafehler im gesamten IKEA-Katalog ist. Aber dass mitten im bunten Reigen der Überschriften der bekannte KZ-Spruch "Jedem das Seine" zu finden ist, das ist niemandem aufgefallen. Wir warten auf die Tischdecke "Maidanek" und die Dekortapete "Buchenwald".


29.09.2006 | 03:48 | Anderswo | Alles wird besser | Sachen anziehen | Zeichen und Wunder

Der allerletzte Kaiser


Kessar Impreore, Umrumqi

"Vorstandsmitglieder in der Firmenzentrale in Rom"

"Seit den fünfziger Jahren arbeitet Chefdesigner Giorgio für Kessar"

"Gründer 1881: Feilibonuo Kaisa"
Buchstabensalat- und Louisbranding, das Umbranden von Paris und Fashion La Vico sind beileibe nicht alles, was die Chinesen im Weltbrandingskrieg aufzubieten haben. Den bisherigen Höhepunkt bilden ihre Anstrengungen rund um die Schuhmarke "Kessar impreore". Schon der Name signalisiert einen imperialen Anspruch. Kessar – so entnimmt man den Schriftzeichen – soll für Kaiser stehen, und impreore für Imperator, so dass wir den ganzen Firmennamen als "Kaiser Kaiser" dechiffrieren können.

Das klingt nun fast schon wie Hohn und etwas Spott, und soll vielleicht auch so gemeint sein. Eventuell ist es aber auch ein grosser Test? Das legen nämlich die Fotos nahe, die in einer Shopping-Mall im westchinesischen Urumqi die Geschichte der Firma Kessar erzählen. Die freundlich lachenden Herren auf dem zweiten Bild sind angeblich Kessars "Vorstandsmitglieder in der Firmenzentrale in Rom, Italien." Auf Foto Nummer Drei soll man "Qiao Qi Ou" sehen, also Giorgio, ein Mann, der "in den fünfziger Jahren als Kessars Chefdesigner eingestellt wurde". Das vierte Foto zeigt Herrn "Fei Li Bo Nuo Kai Sa" (=Philipp oder Filipino Kaiser), der die Firma 1881 gegründet hat, im selben Jahr übrigens, in dem auch Nino Ceruttis Vater geboren wurde.

Nun wissen wir zufällig, dass der Mann auf diesem Foto nicht Philipp heisst, sondern Sigmund, und zwar Sigmund Freud (vgl. besonders dieses Foto). Der gründete 1881 keinen Schuhladen, sondern promovierte mit dem Thema "Über das Rückenmark niederer Fischarten" zum Doktor der Medizin. Und auch die anderen abgebildeten Herren heissen sicher anders, als man in Urumqi so behauptet. Nur wie? Das ist die Frage, die wir an Sie weitergeben wollen. Drucken Sie diesen Beitrag bitte aus, zeigen Sie ihn jedem, den Sie kennen, hängen Sie ihn an Bäume und Laternenpfähle und helfen Sie uns so, Giorgio und die Vorstandsmitglieder zu identifizieren. Wenn uns das gelingt, dann würden wir den sauberen Modekaisern von China zeigen, dass sie uns nicht für komplett dumm verkaufen können. Wenn aber nicht, können sie es eben doch.

Dieser Beitrag ist ein Update zu: Figarau, Figarau, Figarau

Christian Y. Schmidt | Dauerhafter Link | Kommentare (11)


28.09.2006 | 19:39 | Was fehlt | Essen und Essenzielles

Die Rosinenlobby


Bier mit Obst, aber noch ohne Rosinen (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
Eine moderne Plage der Menschheit sind Lebensmittelzusätze. Nicht nur die kleinen pulvrigen oder unsichtbaren, die die Herstellung erleichtern sollen oder die Haltbarkeit verlängern, sondern auch die dicken, klebrigen, süssen. Rosinen zum Beispiel. Warum werden Rosinen in grossen Mengen in ursprünglich geniessbare Lebensmittel gegeben? Warum kann man eigentlich kaum ein Müsli ohne Rosinen kaufen? 80 Prozent aller im Handel erhältlichen Müsli-Mischungen sind aufgefüllt mit ca. 40 Prozent Rosinen. Warum? Gibt es wirklich Menschen, die Rosinen mögen?

Früher, in dunklen Zeiten, als Menschen ohne Perücken weder Salz, noch Kaffee, noch Zucker besassen, waren Rosinen neben Karotten vielleicht das einzig Süsse, was diese Menschen jemals zwischen die Zähne bekommen haben. Dass die ausgehungerten, ausgebombten und blockierten Berliner sich über Rosinen-Bomber freuten, versteht man auch noch. Aber der moderne Mensch, der pro Tag sowieso schon 3 Kilo Zucker oder Zuckerersatzstoffe zu sich nimmt, kann der sich noch über Rosinen, über ausgetrocknete Trauben ernsthaft freuen?

Der haferverarbeitende Betrieb Kölln aus Elmshorn scheint die Marktlücke eines Fertigmüslis ohne Rosinen erkannt zu haben, als er unlängst ein "Heidelbeer Müsli mit Milchcreme-Chips" auf den Markt brachte. Korrekterweise hätte es "Heidelbeerfruchtgranulat-Müsli mit weissen, süssen Stückchen aus teilweise gehärtetem Fett mit Magermilchpulver" heissen müssen, aber einem Unternehmen, das sich traut, Müsli ohne Rosinen auf den Markt zu bringen, sollte man alles verzeihen, notfalls auch die Verwendung von Genhafer, Generika oder auch den sausackblöden Werbespruch "Eine beerige Verführung am Morgen".


28.09.2006 | 12:35 | Alles wird besser | Sachen kaufen | Papierrascheln

Invertierte Staubwesen


(Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
Das staubige Tier ist ein Morgenbuch. Den neuen Wienführer von Tex Rubinowitz kann man nur lesen, wenn die Gehirngänge noch nicht verklebt sind und danach lechzen, sich mit Informationen über Plüschtausendfüssler, Surplus-Listen, Halbeiersuppe und Neidhart-Fresken vollstopfen zu lassen. Denn aus solchen Informationen, und ausschliesslich aus solchen, besteht Das staubige Tier. Es ist ein Buch ohne eine einzige gewöhnliche Information und in dieser konsequenten Vermeidung des Gewöhnlichen wahrscheinlich die weltbeste und lange erhoffte Antithese zu, sagen wir, dem Kursbuch der österreichischen Zugbahn. Der Autor jedoch bereitet beim Lesen des Buches Sorge, fragt man sich doch, wie man überleben kann in vollständiger Ausblendung der Normalität, inmitten all der Keas, Fingerboards und tausendjährigen Eier (Eier sind ein wichtiges Thema, generell). Aber dann fällt es einem wie die riesigen Schuppen des Stegosaurus von den Augen, wie geschickt es Tex Rubinowitz fertigbringt, das Bizarre selbst zum Normalen zu erklären und alles andere für pervers zu halten. Er gehört offenbar zu den seltenen invertierten Normalwesen, und nur die sollten überhaupt Reiseführer schreiben dürfen. Nur vielleicht wenn man einen Elch sieht, kann man mehr Begeisterung entwickeln als beim Lesen des staubigen Tieres. Es sei denn, man liest es abends, dann platzt einem laut und spektakulär der Kopf.

Aleks Scholz | Dauerhafter Link


28.09.2006 | 05:57 | Alles wird besser | Fakten und Figuren

Gewaltmonopoly


Der Sicherheitsexperte hat die Nachbarskatze fest im Visier (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
Aus der Rechtsphilosophie kennt man die Behauptung des Anspruchs aller Menschen auf Rechtsordnung, der notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden müsse. Dass die Gewalt selbst in rechten Bahnen verläuft, dafür hat der Staat zu sorgen, und der hat darauf ein Monopol. Doch Gewaltausübung kostet nicht nur körperliche Mühen, sondern auch Geld. Wirtschaft und Monopol sind jedoch seit jeher eine kritische Mischung – einer soll nicht alles und einer kann auch nicht immer alles. Die innere Spannung dieses Problems entlässt aus sich ein pikantes Phänomen: Private Streitkräfte. Früher mag es zur Wahrung von Law and Order grösstenteils genügt haben, dass der Viehdieb die Schrotflinte des Farmers in der Fresse hatte, aber heute benötigt man angesichts der globalen Herausforderungen natürlich viel wagemutigere Abenteurer, etwa private Spezialsoldaten, die mit Schnellfeuerwaffen umgehen können und sowohl zu Wasser als auch in der Luft einsetzbar sind. Nachdem zu den Kunden dieser Militärdienstleister a.k.a. Private Military Companies solch bekannte und geschätzte Persönlichkeiten wie Donald Rumsfeld gehören, hat die kräftige Nachfrage das Bestellungsangebot erheblich erweitert, bis zum Hindukusch und ins Zweistromland. Dieselbe Aufmerksamkeit wie das US-Verteidigungsministerium schenken diesen seriösen Sicherheitsmännern aber zunehmend auch wieder die auf ihr eigenes Monopol pochenden Juristen, die aus Gründen der Strafverfolgung von illegalen Machenschaften, wie unlängst in Somalia, oder gar von Kriegsverbrechen und Folter emsig dabei sind, den völkerrechtlichen Status dieser Kombattantenfirmen zu klären. Momentan sind die Privatmilitärs nämlich von Fall zu Fall sowohl Soldaten als auch Zivilisten und somit für Kriegsgerichte oder Den Haag rechtlich schwer zu greifen. Wenn Sie also noch schnell und stressfrei einen Bandenkrieg klären wollen, dann hurtig zum Telefon gegriffen und einmal Delivery in die Vorstadt bitte.

Ruben Schneider | Dauerhafter Link | Kommentare (2)


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