Riesenmaschine

06.10.2006 | 17:20 | Fakten und Figuren | Zeichen und Wunder

Joseph haut den Limbus


Foto: joeltelling
Der äusserste Kreis der Hölle wird wegrationalisiert. In ein paar Tagen will Papst Benedikt (von lat. bene = gut und der Partizip-Perfekt-Passiv-Form von -dicere = sprechen) XVI die Vorhölle abschaffen. Dieses nette Plätzchen Nahbereichsjenseits wird also nur noch kurze Zeit (~Ewigkeitsanteil) der Aufenthaltsort für Seelen sein, die ohne eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossen sind. Im metaphysischen Alltagsgebrauch heisst das, dass der Warteraum für ungetauft verstorbene Neugeborene ersatzlos gestrichen wird. Als solches war der Limbus zwar nie ein Teil der offiziellen kirchlichen Doktrin, aber für eine Werbeaktion ist dessen Abschaffung immer noch gut zu gebrauchen. Der Vatikan scheint nämlich zu hoffen, dass der Katholizismus damit vor allem in Asien und Afrika (siehe Kindersterblichkeitsrate) positiv auffallen kann.

Na dann, ein Grund mehr für grundlose Ausgelassenheit. Holt euch eine Buddel voll Weihrauch und konkordiert durch die Strassen!

Johannes Grenzfurthner | Dauerhafter Link | Kommentare (3)


06.10.2006 | 12:23 | Nachtleuchtendes | Vermutungen über die Welt

Explosionsanomalie

Erstaunliche Dinge sind uns schon bekannt geworden. Ein Stern wie die Sonne wird in ein paar Milliarden Jahren als Weisser Zwerg sterben, das wissen wir sehr genau. Wenn so ein Weisser Zwerg einen grösseren Stern umkreist, so kann er von ihm Materie absaugen bis er selbst mehr als genau 1.44 Sonnenmassen wiegt. An diesem Punkt Übergewicht angekommen, wird er in einer Supernova explodieren. Auch das alles ist seit Chandrasekhar jedem bekannt. Bisher allerdings glaubten wir, dass diese Explosion immer exakt gleich abläuft, was ein grosser Segen wäre, weil wir damit genau wüssten, wie hell eine Supernova ist, und wir sie so als Zollstock verwenden könnten, um unser heimatliches Universum zu vermessen, was ansonsten ziemlich schwierig ist. Genaugenommen tun wir das aus Mangel an besseren Zollstöcken schon, und vieles, was wir heute über das Universum wissen, beruhte bisher friedlich auf der stupiden Gleichförmigkeit der Supernovae.

Bis Andy Howell und Kollegen in Toronto vom Supernova Legacy Survey ein Ding fanden, das komisch langsam explodiert, praktisch in Zeitlupe, was seltsam ist, weil Zeitlupe erst vom Fernsehen erfunden wurde, also viel später. Die Erklärung: Der Weisse Zwerg war viel schwerer als normal, daher fliegen seine Teile langsamer auseinander, wegen der Schwerkraft, diesem Patentkleber da draussen. Vielleicht ist das so, weil das fraglich anomale Ding aussergewöhnlich jung ist. Jugend handelt ja oft anders, ungewohnt und verwirrend, auch das wissen wir spätestens seit Thomas Mann. Was das alles aber über Chandrasekhar, unser schönen Theorien über Weisse Zwerge, unsere tollen Messungen am Universum und unser komplettes Weltbild zu sagen hat, ist unklar. Aber irgendwas Wichtiges wird es wohl sein.


06.10.2006 | 04:28 | Supertiere

Bullauge sei wachsam


Hund mit Durchblick (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
Der unangenehmste Feind ist immer der, den man noch nicht kennt. Wir wissen nicht, ob Hunde das auch wissen, aber vielleicht ahnen sie es ja. Mit welcher Motivation sollte also ein Hund Haus und Hof des Herrchens verteidigen, wenn er von der Aussenwelt durch einen blickdichten Zaun abgetrennt ist und nicht weiss, ob draussen nur ein harmloser Kleinemädchenentführer oder eben ein gefährlicher Briefträger herumtappt. Ist dieses künstliche Dummhalten des Schutz- und Wachhundes nicht eine besonders subtile Form von psychologischer Gewalt gegen Tiere? Ist es! So sagen zumindest die Tierfreunde von www.petpeek.info und vertreiben für ungefähre 30 Dollar eine Plexiglashalbkugel, die dem geneigten Wachhund zumindest einen Teilblick auf die Welt da draussen gestattet. Schade nur, dass bei der Gelegenheit nicht an eine Wechselbellanlage gedacht wurde. Zu erwartende Line Extensions: Von der anderen Seite aus in den Zaun eingelassene Gummistiefel und Boxhandschuhe, die adäquate Gegenwehr des Eindringlings ermöglichen.


05.10.2006 | 18:12 | Essen und Essenzielles | Papierrascheln

Finsler im Fülscher


Falsche Spiegeleier, Nr.1149 (Bild: Johanna Fülscher)

Pomeranzenbrötchen Nr.1521, und anderes (Bild: Hans Finsler)

Falscher Salm Nr.194, Schwedische Eier Nr.159 und anderes auf Sulz Nr.165 (Bild: Bernhard Moosbrugger)
Die einen hängen in Frankfurt auf der Buchmesse auf blauen Sofas rum und stellen ihre Werke vor. Die anderen müssen zuhause bleiben. Und dort können sie nicht viel anderes tun als Bilder anschauen oder Fotzelschnitten kochen.
Diese Tätigkeiten aufs trefflichste verbinden kann, wer ein Fülscher-Kochbuch sein eigen nennt. Dieses nämlich glänzt nicht nur durch sein Fotzelschnittenrezept (Nr.1670) und seine 1758 weiteren Rezepte 'von internationalem Niveau', sondern ebenso durch seine Abbildungen, welche beim Kochen ganz nebenbei eine kleine Kulturgeschichte der kulinarischen Illustration erzählen.
Die funktioniert im Fülscher wie die Schweizerische Altersvorsorge: auf drei Säulen aus drei Epochen. Zuerst hat Johanna Fülscher in den 20er Jahren jedes einzelne Rezept mit einer kleinen, lehrreichen Tuschezeichnung illustriert (beachtlich: Äpfel als Igel, Nr. 1095). Später, in den 40er Jahren, hat Hans Finsler, das Bauhaus der Schweizer Photographie, eine dem Gegenstand – hier Kekse – angemessene Bildsprache zu entwickeln versucht. Diese Neue Sachlichkeit trifft dann völlig unvermittelt auf die Bilder eines offensichtlich Perversen von Bernhard Moosbrugger, einem Schüler von Finsler. Ganz im Geiste der 70er Jahre wird hier das Essen immer symmetrisch, aber lieber noch gepunktet, gemustert (Rauten!), geschichtet oder getürmt angerichtet – wobei die Königsdisziplin wohl die Gegenständlichkeit (Tannenzapfen mit Mokka-Buttercrème, besteckt mit Mandelschuppen, Nr.1363) gewesen sein dürfte.

Die verlegerische Geschichte des Fülscherkochbuchs verliert sich irgendwann im Dunkeln, dem Weltbild Verlag gebührt Dank dafür, ungefähr die achte Auflage jetzt wieder neu aufgelegt zu haben. Stören wir uns nicht zu sehr am stinkenden Papier dieser Ausgabe, der miesen Druckqualität der Finslerbilder oder daran, dass aus unerfindlichen Gründen fast alle Tuschzeichnungen fehlen, freuen wir uns vielmehr am zurückgewonnen Wissen. Denn wer weiss denn heute noch, wie 'Verbrühte Kugeln' (Nr.1685), 'Plattenmüesli (Nr. 1206), Hirnpudding (Nr.291) oder 'Plaisir des Dames' (Nr. 1585) gehen? Die Herren auf dem blauen Sofa sicher nicht.


05.10.2006 | 11:28 | Papierrascheln

Sie nennen es Arbeit


vlnr: Friebe, Lobo (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
Die Riesenmaschineautoren Holm Friebe und Sascha Lobo haben ein Buch geschrieben. Sie nennen es Wir nennen es Arbeit. Das ist ironisch gemeint, es ironisiert das pathetisch und mantraartig von Künstlern, Clowns und Eierdieben umcodierte Wort ARBEIT, das Adolf Hitler schon ein paar Jahre vorher ebenfalls umwertete, also eine Verhöhnung von Kohlegrubenkumpeln und Kettensägensklaven. Die Autoren erklären in dem Buch, wie man Arbeit simulieren und dennoch Erfolg und Geld einfahren kann, wenn man nur gut frisiert ist und im Internet irgendwas behauptet, und dadurch schnell eine einem folgende Schafherde lukrieren kann. Und auch wenn, wie man weiss, inzwischen jeden Tag 5000 neue Weblogs aufgemacht werden und der Blogger von heute nichts anderes ist als das lästige Möbel in den Fuzos der schrecklichen Städte, eine hackysackspielende Pantomime, also das allerallerüberflüssigste nach lauwarmem Wasser, so war diese Chimäre doch irgendwann, im Pleistozän vielleicht, mal offenbar eine Goldgrube. Im Buch von Friebe und Lobo werden all die Verhältnisse generös beleuchtet, die kurzfristige Demokratisierung der Mittel, die die anderen Medien verschlafen haben, und die sie naturgemäss versuchen zu simulieren, am Ende kommt eine Kolumne im Stern heraus, die der Blogger wiederum im Internet versucht zu imitieren.

Dass die Autoren begleitend zu ihrem Buch auch noch ein Weblog eröffnen mussten, kann nur mit dem ranzigen affirmativen Subversionskalkül erklärbar sein, denn nötig hätten sie es nicht, weil, sie sind immer gutfrisiert. Besser zumindest als die 5000 Blogger und deren Sternadepten.


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"Chocolate", Prachya Pinkaew (2008)

Plus: 8, 9, 11, 12, 37, 49, 55, 69, 79, 80, 89, 108
Minus: 1, 26, 90, 113, 143, 158
Gesamt: 6 Punkte


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