13.11.2006 | 13:06 | Papierrascheln
 (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)Dass die Kirche immer mehr an Glaubwürdigkeit und Autorität einbüsst, liegt natürlich daran, dass all die guten Werte wie Drohen und Strafen, Schwulst, Augenwischerei und Flitter verschwunden sind, zugunsten eines Vatikanclowns, um den sie alle lachend tanzen wie bei einer Technoveranstaltung. Dennoch bleibt eine Bastion uneinnehmbar, Weihnachten, eine Veranstaltung, die der Autor Max Goldt zu Recht als etwas definiert, dessen Zauber sich erst dann entfaltet, wenn man an ihm seitlich vorbeigeht.
Die grossen Städte leeren sich plötzlich, fliessen aus, wo unsere Helden ein Dasein "jenseits der Festanstellung" fristen, sie fahren in Karawanen zurück nach Deggendorf und Herne-Wanne, Orte, an denen sie sich wieder in Kinder verwandeln. Im Buch Driving Home erzählen 18 Autoren von entfremdeten Orten, beengten, bedrückenden Stätten der Verpflichtungen und Missverständnisse. Dafür, dass die Bachmannpreisteilnehmerdichte ganz besonders hoch ist, ist die Qualität doch relativ schwach, das kann an dem trüben Thema liegen, aus dem fast alle Autoren herauszukommen versuchen, indem sie als einen der wenigen Lichtblicke kuriose Festmahlabfolgen schildern. Wegen vier Texten lohnt sich dennoch die Lektüre. In einem spielt eine geschenkte Hand eine düstere Rolle, in der anderen wird lakonisch das Verschwinden eines Fliegenpilzes beklagt. Ulrike Sterblich (kennt man auch als das Supatopcheckerbunny) schildert ihren Spaziergang heim durchs entvölkerte Berlin, sie schaut durchs Fenster einer Kneipe, in dem ein paar geisterhafte Gestalten über ihren Getränken brüten, und fühlt sich wie ein Krippenesel. Simone Will beschreibt ein David-Sedaris-artiges Chaos, in dessen Verlauf ihr geistig behinderter Bruder sämtliche Türklinken des Hauses abschraubt, um sie zu verstecken, und sie selbst sich in der Erinnerung ihre Brille "mit der Haut eines knusprigen Hühnchens putzt". Lässt sich gut im Zug heim nach Lüdenscheid lesen.
13.11.2006 | 01:09 | Anderswo | Alles wird besser | Essen und Essenzielles
 Das Neue Das AlteIn VivoCity, der gerade eröffneten grössten Shopping-Mall Singapurs, findet sich im zweiten Stock mit "Food Republic" der teuerste Foodcourt der Insel. Fünf bis sieben Millionen Singapur-Dollar (2,5 – 3,5 Millionen Euro) hat nach Angaben der Betreiber die Ausstattung der versammelten Garküchenstände und kleinen Restaurants mit echten Antiquitäten – Balken, Kacheln, Pferdewagen aus der Qing-Dynastie – gekostet, welche u.a. aus historischen Häusern stammen, die momentan in China beinahe flächendeckend abgerissen werden. So will man, wie Food Republic's Brand-Managerin Patsy Loo erklärt, Einheimischen und Touristen helfen "zu verstehen, wie es in Asien vor dem Krieg aussah, als es noch viele mobile Garküchen auf den Strassen gab." Das geht in Singapur tatsächlich nicht anders, denn mobile Strassengarküchen sind hier verboten, angeblich aus hygienischen, wahrscheinlich aber auch aus anderen Gründen. So kann, wer will, die Einrichtung der Food Republic auch als einen indirekten oppositionellen Akt in bester Tradition der Aufklärung lesen.
Unten im Basement 2 der Vivo-Mall hat sich dagegen das Ancien Régime eingenistet. Der Zuckerzeugsupermarkt Candy Empire ist zwar mit 1.000 qm gegen 8.000 qm viel kleiner als die Schlemmerrepublik, dafür aber auch reaktionärer. In der neu eröffneten Filiale hing bis vor kurzem ein Schild, das Rollstuhlfahrern das Einrollen untersagte. Nach heftigen Protesten ist das mittlerweile entfernt worden und die Royalisten haben sich entschuldigt, doch weitere Konfrontationen zwischen Reaktion und Fortschritt liegen in der Luft. In Singapur kursieren immer noch Aufrufe, das Zuckerimperium zu boykottieren. Damit nehmen die Brandmeldungen aus VivoCity noch kein Ende. Auf die Food Republic ist es bereits zu handfesten Übergriffen gekommen. In den ersten zwei Wochen nach ihrer Konstituierung wurden hier ausgerechnet ein sog. "Love Letter-Maker" und ein historisches Schild gestohlen. Ungeklärt ist bisher, von wem, aber die Zeichen verdichten sich, dass der auf Harmonie bedachten Waldorf-Mall ein revolutionärer Sturm bevorsteht. Naja, vielleicht auch nicht.
Dieser Beitrag ist ein Update zu: Shopping mit Rudi
12.11.2006 | 18:24 | Alles wird besser | Fakten und Figuren
Im Knie sitzt die Seele des Menschen, sagen jedenfalls irgendwelche Indianer. Wenn das stimmt, dann hat man nach dem Einbau künstlicher Kniegelenke endlich Ruhe vor dem faulen Schmarotzer, der seine Zeit ansonsten damit verbringt, die Füsse hochzulegen. Ausserdem erfährt man so endlich, was das (nun seelenlose) Titan-Knie den ganzen langen Tag so treibt, denn die Firma MicroStrain hat es geschafft, eine Wanze ins Knie einzubauen. Bisher meldet sie nur unnütze Testdaten, Kräfte und Drehmomente etwa, die auf das Knie wirken, einfach nur Zahlen mit Kommastellen also, aber das immerhin kabellos, energielos und vollautomatisch. Was man damit in Zukunft alles noch anfangen könnte bzw. wird! Man wird Bilder aus dem Knie (Blitzlicht) senden und live ins Internet stellen. Man wird per Skype mit seinem Knie reden können. Man wird jederzeit wissen, ob das Knie noch da ist und wie es ihm geht, also auch, wenn man auf Reisen ist. Man wird sein Knie bei Second Life anmelden, und beide Knie werden in Online-Rollenspielen gegeneinander antreten. Herrliche Möglichkeiten, dafür kann man ja wohl getrost auf die Seele verzichten.
12.11.2006 | 14:25 | Alles wird besser | Sachen kaufen
 "Das Rasterelektronenmikroskop beweist es." (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)Zugegeben, die folgende Geschichte klingt schwer nach Pyramidenhut meets Antikalkulator.
Nichtsdestotrotz will sie hier erzählt werden: Es ist die Geschichte eines Patents von 1996 mit der Nummer 196 45 592. Sie beginnt mit dem Ärger von Ludwig Kemmelmeier über schnell abstumpfende Rasierklingen und endet fast schon mit der Erfindung des BladeMaster . Ein starker Dauermagnet sollte helfen, die hauchdünnen Schneidkanten von Systemklingen zu stabilisieren, zu härten und zu reparieren. Oder in der Sprache Kemmelmeiers: " Die ungeordneten Kristalle im Klingenstahl werden durch die Feldlinien des Magneten geordnet." Sämtliche Versuche, die Erfindung über einen der beiden Quasimonopolisten Wilkinson oder Gillette zu vermarkten blieben erfolglos. Kein Wunder, schliesslich gehören die Gewinnmargen bei Systemklingen zu den besonders lukrativen im Drogerie-Segment. Eine Vervierfachung der Lebensdauer von Rasierklingen? Da könnte die Industrie ja genau so gut das Nirosta-Auto, den ewigen Kalender oder die Feinstrumpfhose ohne Laufmaschen auf den Markt werfen! Der Erfinder schabte zunächst knapp an der Insolvenz vorbei und vermarktete den Scharfhalter selbst im Internet. Allmählich sprach sich der Spareffekt unter Nass-Rasierern und bei Bikini- Zonenkindern rum. Folge: Wirtschaftlich schneidet Kemmelmeier inzwischen ganz gut ab. Je teurer die 2-, 3-, 4- oder 5-fach-Klinge, desto schneller erreicht man die Gewinnschwelle . Auch wenn das jetzt schwer nach Milchbartmädchenrechnung klingt.
12.11.2006 | 02:03 | Anderswo | Alles wird besser | Vermutungen über die Welt
 Thinking of Japan (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)Es soll auf dieser Welt eine Insel geben, deren Bewohner täglich bis zu 19 Stunden arbeiten, dabei immer so gerade noch dem Karoshi von der Schippe springen, anschliessend zum Pachinko gehen oder sich mit ein paar druckfrischen Hentai in ein Capsule-Hotel legen und dabei ein paar Jussipussi und Big Nuts mit Fart herunterspülen. Wenn Menschen mit einem solch extremen, über Jahre hinweg praktizierten Lebensstil plötzlich auf ihrer Insel nicht mehr sicher sind, weil z.B. irgendwelche Platten an ihr ruckeln, dann kann das natürlich auch nur besonders extrem über die Bühne gehen. Etwa so wie in Shinji Higuchis neuem Film "Sinking of Japan", dem Remake eines Films von 1973, der gerade (am 26.10.) in Singapur angelaufen ist und in dem sich Erdbeben, Vulkanausbrüche und Tsunamis ein Stelldichein geben, um Shinkansen, Tempel, Fernsehtürme und eben auch oben erwähnte Bewohner durch die Gegend zu wirbeln, dass es nur so kracht. So verrät es bereits das Filmplakat, und viel mehr, als darauf zu sehen ist, passiert dann auch im ganzen Film nicht, zumindest fast nicht – die Regierung versucht nämlich noch, ihre Bewohner von der Insel aufs sichere Festland zu retten aber dann ist auch schon Schluss und die eigentlich schlimmste Katastrophe wird ausgespart: Die Bewohner müssen sich in der neuen Heimat einen neuen Lebensstil zulegen.
Eine Ausstrahlung in Deutschlands Kinos lässt übrigens auf sich warten. Man arbeitet wohl noch an der Übersetzung des Titels.
Dieser Beitrag ist ein Update zu: Plattenkritik
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