Riesenmaschine

14.12.2005 | 01:59 | Anderswo | Papierrascheln

Blogbuster


Illustration: estattin (Lizenz)
Eine Dokumentation über den Holocaust, deren Höhepunkt eine epische Schlachtszene im Stil von Braveheart ist, in der tausende von jüdischen und Nazikämpfern über ein offenes Feld aufeinander zurennen – fänden Sie das lustig? Nein? Hm. Finden Sie es vielleicht lustiger, wenn Sie aus The Australian, einer Zeitung aus dem Murdoch-Imperium, erfahren, dass Mel Gibson, Sohn eines Holocaustleugners und Jesusmörder, mit exakt diesem Vorschlag die Programmchefs von ABC überzeugt hat, seine Produktionsfirma mit dem Projekt zu beauftragen? Immer noch nicht lustig? Was, wenn wir ihnen auch noch erzählen, dass Murdochs Journalistendarsteller das ganze wörtlich aus dem Satire-Tratschblog Defamer abgeschrieben hat, das mit der erfundenen Szene die schamlosen und groteskesten Elemente des tatsächlichen Produktionsauftrags illustrieren wollte? Hilariös, ist es nicht?


13.12.2005 | 18:33 | Alles wird besser | Sachen kaufen | Papierrascheln

Empfehlerbehebung

Rechtzeitig zu Weihnachten macht uns die Firma Amazon ein sehr schönes Geschenk: Bisher waren die Buchempfehlungen auf der Basis vorangegangener Käufe seit ihrer Einführung 1999 auf unwürdigstem Niveau herumgekrebst: "Uns ist bekannt, dass Sie Terry Pratchett noch nie leiden konnten, aber vielleicht gefällt Ihnen ja sein neues Buch! Das gefällt sehr vielen Kunden! Genau wie der neue Harry Potter!" Jetzt hat man sie unter Zuhilfenahme von Ajax aufgebohrt und damit erstmals benutzbar, ja, bis auf die Navigation zwischen den einzelnen Empfehlungsseiten fast benutzerfreundlich gestaltet. Auch die Frage, wie Amazon darauf kommt, einem hartnäckig "Urin, ein ganz besonderer Saft" anzupreisen, wird endlich beantwortet: "Diesen Artikel haben wir empfohlen, weil Sie Das geht die Leser jetzt aber wirklich nichts an bewertet haben." Selbst wenn man etwa fälschlich den Kauf des Buchs "Audio-Röhrenverstärker von 0,3 bis 10 Watt erfolgreich selbst bauen" angelastet bekommt, kann man das Kuckucksei einfach löschen oder ihm zumindest verbieten, einen mit Folgeempfehlungen ("Neues aus Jogis Röhrenbude") zu behelligen. Ob es an diesen kosmetischen Operationen liegt oder ob man der Empfehlungsengine ein neues Innenleben spendiert hat, ist schwer zu sagen, aber die Ergebnisse sind jedenfalls deutlich besser als früher. Vielleicht müsste man doch endlich mal diesen Klassiker von Moleskine lesen.


13.12.2005 | 10:15 | Sachen anziehen | Vermutungen über die Welt

Boho-Style


Hier fehlt dieses Bild
Was ist eigentlich Boho-Style? Die deutschsprachige Ausgabe der Glamour verabsäumt es in kaum einer der vergangenen Ausgaben, auf diese diffuse neue Stilrichtung – den zugehörigen Bildern nach zu urteilen eine Mischung aus Neo-Romantic und Post-Hippie, bei der Ethnoschmuck und Lammfell eine nicht unwesentliche Rolle spielen – aufmerksam zu machen, ohne freilich zu erklären, worum es sich dabei genau handelt: Samt zu Samt getragen, wirkt festlich-hübsch. Zu robusten Stoffen wie Denim kombiniert, hebt er sich besonders hervor. Z.B. im Boho-Chic-Look mit Dreiviertel-Hose, eleganten Accessoires und süssen Ballerinas oder Pumps, lesen wir da etwa. Beziehungsweise: Designer wie Christian Dior, Ralph Lauren und Versace haben diese Saison das zartgriffige Lammfell in Mäntel, Jacken, Kleidern, Stiefeln und Accessoires verarbeitet. Die Wirkung der Kreationen könnte nicht vielfältiger sein: romantisch mit Boho-Flair, elegant im Ladylike-Stil ... usw.

Zunächst nahmen wir an, die Glamour-Redaktion hätte da etwas in den falschen Hals bekommen, und David Brooks' bourgeoise Bohemians, abgekürzt Bobos irgendwie zusammen und durcheinander gebracht mit den Hobos, der US-amerikanischen fahrenden Bänkelsänger-Subkultur aus Zeiten der grossen Depression, deren letztes lebendes Exemplar Tom Waits ist. Alles, was Wikipedia zu Boho weiss, ist, dass es sich dabei um eine sehr kleine Stadt in der Nähe von Enniskillen, Landkreis Fermanagh, in Nordirland handelt.
Tatsächlich ergeben weitere Recherchen, dass der Trend auch in den USA bekannt ist, und vermutlich von dort stammt.

Danach gilt Sienna Miller als Galionsfigur dieser Moderichtung, die in ihren Grundzügen als eklektische Mischung aus Gypsie-, Ethno- und Landfrauenlook dort bereits 2002 Gestalt annahm. Es sei nun an der Zeit, auch bei der Inneneinrichtung dem "inneren Gypsie" freien Lauf zu lassen, weiss die Online-Handtaschen-Ressource handbag.com. Über eine nicht minder eklektische Binnengeschichtsschreibung, die auf zeitlich nicht näher als "irgendwann früher" zu verortende Boho Days rekurriert, schafft sich der Trend im Reverse-Engeneering- beziehungsweise Backward-Masking -Verfahren seine eigene Basis, in die irgendwie die Hobo-Vergangenheit hineinspielt, wie auch eine zeitlich und räumlich nicht näher spezifizierte Boheme, wonach ein Bohemian jemand ist, der sich für "Kunst, Musik und/oder Literatur interessiert und schlampig anzieht" – was zumindest die Frage der Etymologie geklärt haben dürfte. Interessanterweise knüpfen die Amis damit an ein Missverständnis aus den Anfangstagen der Pariser Bohème an, das hinter der ursprünglichen Namensfindung steht. Weil man sich die illustre Gesellschaft aus Künstlern, Literaten und Säufern, die um das Jahr 1830 herum entstand, nicht anders erklären konnte, ging man kurzerhand davon aus, dass es sich um fahrendes Volk aus der Gegend um Böhmen handeln müsse.


13.12.2005 | 05:57 | Nachtleuchtendes | Sachen kaufen

Konsequent hell


Gibt es auch in bunt (Aus historischen Rechteklärungsgründen ist hier kein Bild. Aber im 20 Jahre Riesenmaschine-PDF gibt es entweder ein Bild oder eine Bildbeschreibung.)
Weihnachten, das heisst Oktober bis Ostern, ist leider die Zeit der Punktwolkenaufhellung. Was das bedeutet, erkläre ich gleich, aber vorab sei angemerkt, dass Licht, auch gern sehr viel Licht, prinzipiell gut und richtig ist. Entscheidend dabei ist jedoch die Struktur der Beleuchtung: Weihnachten hat das Ziel, durch möglichst viele, meist unregelmässig verteilte punktförmige Leuchten eine Art Besinnung hervorzurufen. Dies ist der völlig falsche Ansatz, und er funktioniert ja auch nicht, wie die hohen Selbstmordraten beweisen. Viele, kleine Lichter verwirren nur, sie verbreiten Irrsinn und Kleingeist und lenken von den grossen Problemen ab, also zum Beispiel, aber das weiss wohl jeder selbst. Zudem verweisen sie implizit ständig auf die grosse Finsternis zwischen ihnen, und das muss ja wohl nicht sein.

Die Gegenmassnahme ist so einfach, dass man sich fast schämt, es hinzuschreiben: Grosse, gleichfömige Beleuchtungsapparate, die Licht in breiten Strömen, ähm, ausströmen. Zum Beispiel diese einigermassen neuartigen "Twist Together" Lichtschirme von Glide, die man, und hier muss man fast in helle Begeisterung ausbrechen, sogar kaufen kann, nagut, nicht überall (zum Beispiel nicht in Puerto Rico, deshalb fast), aber immerhin nur für ein paar hundert Dollar. Aus schön rechteckigen Kisten (nein, Behagliches muss nicht rund sein) läuft die Photonensuppe ruhig, gleichmässig, aber kraftvoll in den Raum und ergreift alle Anwesenden, vermutet man jedenfalls, mit einer solchen Zuversicht, dass man sie gleich noch den Sommer durch anlässt. Die Sonne ist ja vergleichsweise eher nervös und hektisch.

Aleks Scholz | Dauerhafter Link


13.12.2005 | 05:31 | Supertiere | Fakten und Figuren

Killerbienen V2.0


Mörder während der Mittagspause (Foto: vickyb) (Lizenz)
Erinnern Sie sich noch? Mit erhobenem Stachel brummten sie vor ein paar Jahren eine Zeitlang durch alle unverschlossenen Sommerlöcher – afrikanische Bienen waren von einem irren Wissenschaftler mit europäischen verpaart worden, und wälzten sich jetzt als tödliche Lawine aus Killerbienen durch Mittelamerika. Niemand widerstand dem Vormarsch der entsetzlichen Insekten, und heute ist Nordamerika eine menschenfeindliche, honigverklebte Wüste, in der jeder sich selbst der Nächste ist. So weit, so furchtbar. Nun aber kommt alles noch viel schlimmer, jetzt haben nämlich andere irre Wissenschaftler herausgefunden, dass Bienen sich menschliche Gesichter merken können. Wenn jetzt den Kleinkriminellen noch jemand Schlagringe und Baseballschläger beibringt, wird es zappenduster für die menschliche Zivilisation. Sollten Sie neunmalklug einwenden wollen, dass diese Gesichtserkennungsmeldung genauso irreführender Blödsinn ist wie damals die Meldung, dass Tauben Picasso erkennen, dann nehmen Sie sich in acht! Eine Killerbiene mit ihrem Gesicht drin ist womöglich schon unterwegs – irre Wissenschaftler verstehen keinen Spass.


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"Flatlife", Jonas Geirnaert (2004)

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